Ein russischer Soldat vor dem AKW Saporischschja, Anfang August 2022.

Foto: Reuters / Alexander Ermochenko

Seit Wochen melden Apotheken eine stärkere Nachfrage nach Jodtabletten. Dieses Spurenelement ist in der Natur harmlos, nicht radioaktiv, wird über die Nahrung aufgenommen, ist wichtig für ein gutes Funktionieren der Schilddrüse.

Jod gibt es aber auch in gefährlicher Form, wenn es etwa bei der Kernspaltung in einem Atomkraftwerk entsteht. Es ist dann, wie viele andere Teilchen beim Zerfallsprozess von Uran, radioaktiv. Gelangen derartige Elemente bei einem Störfall in einem AKW in großen Mengen in die Luft und dann über die Schilddrüse in den Körper, wird es lebensgefährlich.

Die Krebsgefahr steigt, besonders bei Kindern, deren Drüsen sehr aktiv sind. Das lässt sich durch rechtzeitige Einnahme "guten" Jods mit einer "Jodblockade" verhindern. Jedoch: Unnötige Überdosierung schadet.

Im Video: Gibt es zuverlässige Quellen zur Situation im AKW, und was würde der Ausfall von Saporischschja bedeuten? Es antwortet Nuklearexperte Georg Steinhauser.

DER STANDARD

Mitten im Kriegsgeschehen

Dass so viele Menschen in Österreich und quer durch Zentral-, Ost- und Nordeuropa dazu über ein so spezielles Wissen verfügen, Jodtabletten horten und ihre Angst wächst, je dramatischer die Meldungen zum Atomkraftwerk von Saporischschja in der Ukraine ausfallen, ist natürlich kein Zufall. Diese mit sechs Reaktorblöcken ausgestattete Anlage ist das größte AKW Europas. Nach der Besetzung durch russische Truppen geriet es bei vollem Betrieb mitten ins Kriegsgeschehen.

Das löse wohl Urängste, tief sitzende Erinnerungen an die Reaktorkatastrophe im AKW Tschernobyl nördlich von Kiew im Jahr 1986 aus, glaubt Verena Ehold, die Leiterin der Abteilung für Strahlenschutz im Klimaministerium von Leonore Gewessler. Das könne sie gut verstehen. Als Kind habe sie 1986 die um sich greifende Verunsicherung mitbekommen, vor allem, weil man so lange nicht wusste, was auf dem Gebiet der Sowjetunion eigentlich los war. Die studierte Juristin ist heute die zentrale Person, wenn es zu einem Notfall, zum Auslösen des Strahlenschutzalarms mit den entsprechenden Maßnahmen kommt.

Unwissen ist das Schlimmste

Moskau hatte damals den GAU in Tschernobyl tagelang verschwiegen. Durch Zufall kam man in Schweden drauf, dass aus der Ukraine deutlich erhöhte Radioaktivität ins Land geweht worden war. Heute fragen sich viele erneut, ob ein solcher "Super-GAU" – allergrößter anzunehmender Unfall – durch Zerstörung oder Sabotage eines Reaktorblocks wieder möglich wäre; ob radioaktive Wolken wieder über Europa ziehen könnten, Felder und Wiesen radioaktiv kontaminieren.

Vor allem aber zweifeln viele Bürger, ob Behörden und Regierungen die volle Wahrheit sagen oder ob sie der Bevölkerung – wie 1986 – Wichtiges verschweigen. In Wien hatte der zuständige Umweltminister den Störfall tagelang nicht bestätigt, obwohl man davon bereits gewusst hatte, um Panik zu vermeiden.

2022 tun Berichte von Granatenbeschuss, von Toten bei Kampfhandlungen rund um die Meiler, von Bränden in der Nähe der trockenen Brennstofflager auf dem Gelände ihr Übriges, um Befürchtungen und die Gerüchte anzuheizen. Und im Zeitalter von Social Media gibt es natürlich auch gezielte Falschinformationen und Verschwörungstheorien.

Information als Herausforderung

Nicht zuletzt deshalb reist eine Delegation der internationalen Atomenergiebehörde unter ihrem Chef Rafael Grossi diese Woche nach Saporischschja. Sie will Klarheit in die Sicherheitslage bringen, gesicherte Informationen sammeln. Für Verena Ehold ist dies zentral, nicht nur zur Abwendung von Gefahren durch Störungen. "Das Wichtigste ist jetzt offene, ehrliche, unzweideutige Information" – in jeder Hinsicht, nicht nur unter Experten, sondern gerade auch in Bezug auf die Bürger. Das sei die entscheidende Lehre, die man aus der Katastrophe von Tschernobyl gezogen habe.

Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Tschernobyl und Saporischschja heute sieht sie nur darin, dass die Bürger "in einer gewissen Hilflosigkeit gefangen" seien: Man könne selbst nichts machen, sei den Ereignissen weit weg ausgeliefert. Aber ansonsten versichert die Expertin, dass in Bezug auf die Sicherheitsmaßnahmen sowohl im AKW selbst wie auch für die Bürger in Österreich im Fall eines Katastrophenschutzalarms bei einem schweren bis katastrophalen Störfall praktisch nichts mehr so sei wie 1986: "Damals gab es gar nichts. Heute wissen wir alles." Die Herausforderung wäre im Ernstfall, "der Bevölkerung ein genaues Bild zu vermitteln. Aber wir können entsprechend gezielt reagieren."

Würde in der Ukraine Radioaktivität frei, könnte man genau bestimmen, um welche Mengen es gehe, mit welcher Art von gefährlichen Teilchen man es zu tun habe, was hoch in die Atmosphäre aufsteige, was auf den Boden absinke. Meteorologen könnten heute genau sagen, wie die Luftströme über Europa ziehen, wie man in welchen Gebieten reagieren müsse, und vieles mehr.

"Zweites Tschernobyl" unmöglich?

Die deutlich verminderte Gefahr im Vergleich zu Tschernobyl beginne aber schon damit, dass die Reaktorblöcke von Saporischschja zwar sowjetischer Bauart sind, erklärt Ehold. Sie seien aber technisch komplett überarbeitet, entsprächen bei den Kontrollen praktisch voll den europäischen Standards. "In Tschernobyl gab es etwa keine Schutzhülle, aber eine massive Explosion eines Reaktors", erzählt Ehold, tagelang seien "unglaubliche Mengen" an radioaktivem Material in größte Höhen gelangt und dadurch tausende Kilometer verweht worden. Das wäre heute so nicht möglich, praktisch ausgeschlossen.

Auch habe das AKW alle Programme und Stresstests durchlaufen, die die EU nach der Katastrophe von Fukushima 2011 auf den Weg gebracht hatte. Die Ukraine sei Teil eines engen Netzwerks an wechselseitiger Information, Saporischschja werde online rund um die Uhr überwacht, alle Daten seien verfügbar. Dazu komme ein dichtes Netz an Messstationen über Europa, inklusive Ukraine und Belarus, das die Radioaktivität wie auch die Wetterdaten rund um die Uhr erfasst.

Das wiederum ist deshalb so entscheidend, weil das Wissen um all diese Daten und Fakten es den nationalen und EU-Behörden erlaube, präzise Notfallpläne zu erarbeiten und auszutauschen. Neben den technischen Umständen sieht die Leiterin der Strahlenschutzabteilung im Klimaministerium darin den größten Unterschied von damals und heute: Alle Maßnahmen, die es in Österreich umzusetzen gäbe, seien für einzelne Szenarien der Strahlenbelastung bis ins Detail vorbereitet.

Genug Zeit zum Reagieren

Sobald die erste Meldung komme, dass aus einem AKW in der Ukraine (oder sonst wo in Europa) Radioaktivität austrete, "können wir innerhalb einer Stunde reagieren". Sie selbst würde das nach Gegenchecks und Beratungen von Experten auslösen. Eine Notsitzung der Bundesregierung wäre dazu gar nicht erforderlich, dazu bliebe auch zu wenig Zeit. Der Verwaltungsakt zum Auslösen des Krisenmechanismus sei bereits vorab gesetzt.

Bis dann in Österreich die Sirenen heulen, die Bürger über Radio und Fernsehen gewarnt werden, wären freilich erst noch weitere Schritte nötig. Ein Krisencenter würde tätig, die zuständigen Ministerien involviert.

In jedem Fall sei wichtig, dass die Bevölkerung eines wisse: "Es gibt keine Notwendigkeit, in Österreich in Panik zu geraten", selbst bei einem GAU in Saporischschja, der eigentlich auszuschließen sei, würden zwei Tage vergehen, bis Radioaktivität im Land ankomme. Werde Alarm ausgelöst, sollte man in Ruhe nach Hause gehen. Für die Kinder seien in Schulen und Kindergärten die berühmten Jodtabletten vorbereitet, die sie dort auch verabreicht bekämen. "Das Wichtigste ist Information", sagt die Expertin, "Radio und Fernsehen einschalten, Ruhe bewahren, auf weitere Anweisungen warten."

Es müsse sich auch niemand Gedanken darüber machen, ob man Vorsorge für einen Schutzbunker treffen müsste, selbst bei einem katastrophalen Ernstfall in der Ukraine. "Viele haben die Vorstellung und die Ängste, die man im Kalten Krieg vor Atombomben gehabt hat." Deshalb seien bis zum Ende des Kalten Krieges auch Atombunker in Häuser eingebaut worden. Ein Unfall in einem AKW, versichert Ehold, sei eine ganz andere Kategorie, wir hätten genug Zeit, uns zu schützen. (Thomas Mayer, 30.8.2022)