Alfred Sungi hat angerufen. Die Sache, meinte die Wiener Laufinstitution, sei ein bisserl vertrackt. Denn eigentlich sei es ja gut und super, dass derzeit so viele Events und Bewerbe geplant sind wie kaum je zuvor. Er habe, sagte Alfred, fast das Gefühl, dass viele – egal ob Läuferinnen und Läufer oder Veranstalterinnen und Veranstalter – gerade alles "nachlaufen" wollen, was in den letzten zwei Jahren nicht stattfinden konnte.

Eh gut. Weil mehr Läufe auch mehr Licht aufs Laufen …. Und so weiter.

Was daran das Vertrackte sei?

Nun: Wenn alle Krach machen, hört man nur die Lautesten wirklich gut – und alles, was nicht mit der Lautstärke einer F16 ins Wohnzimmer rauscht, ist dann bloß Begleitrauschen. Höchstens.

Foto: Tom Rottenberg

Alfred Sungi ist keine F16, sondern Laufveranstalter. Ich kenne mich in der Fliegerei nicht aus, aber wenn ein City-Marathon ein Kampfflugzeug ist, ist Sungis "Alfreds Lauf" wohl eine Cessna. Oder ein Ultralight.

Das sagt aber nichts über Charme und Reiz der Veranstaltung selbst aus. Ganz im Gegenteil. Alfred Sungi steht für mich exemplarisch für Herzblut-Events überall im Land: Laufveranstaltungen, die von der Tradition, der Leidenschaft und dem hingebungsvollen Einsatz von Einzelpersonen oder kleinen Vereinen am Leben gehalten werden. Die sich finanziell nie wirklich groß rechnen können – und wo das auch gar nicht geplant ist. Die jede für sich isoliert und einzeln betrachtet vielleicht sogar irrelevant sind – die aber in Summe unverzichtbar sind. Das kleinräumige, regionale, lokale und nahbare Fundament, auf dem Laufen aufbaut.

Jene Basis, ohne die die "Großen" und "Kommerziellen" sich wohl mittelfristig schwertäten. So wie ein Fluss, in den keine Bächlein münden.

Foto: Tom Rottenberg

Alfred Sungis "Bächlein" heißt "Alfreds Lauf". Er findet heuer am 18. September statt. Und so wie jedes Jahr gibt es da auf der Hauptallee einen bunten Strauß an Klein- und Teilbewerben. Vom 10- und 5-km-Einzellauf über Dreierteam-Wertungen bis hin zu echten "Herzausreißer-Läufen". Also Kinderläufen, bei denen tatsächlich nur rennt, wer grad rennen will – und sich gern auch mal mitten auf die Allee setzt, wer da im Moment eine Ameise beobachten möchte: Genau so muss das sein.

Außerdem gibt es da noch Alfreds "Spezialität", die "200 Meter Zielsprint"-Wertung. Also eine Spezial-Zeitnehmung auf den letzten Metern – "mit Bolt-Feeling für alle", wie Sungi betont.

Und wo ist da jetzt das Vertrackte? Als mich Alfred Mitte August anrief, waren erst genau 16 Personen angemeldet.

Foto: Tom Rottenberg

Schuld daran ist niemand im Speziellen. Schon gar nicht der "Mitbewerb": Kurzfristigkeit und Spontaneität im Konsum- und somit auch (Sport-)Verhalten wird immer mehr zur Normalität. Wo die "Ware" (also auch Startplätze) knapp ist, muss man sich ja eh ohnehin ein Jahr oder länger im Voraus "committen" – meist mit Storno-, Übertrags- oder Rücktrittsregeln, die alles andere als kund:innenfreundlich sind. Dass man dann dort, wo es nur halbwegs geht, so spät wie möglich bucht, ist nicht weiter verwunderlich. Erst recht, wenn es 1.000 "kleine" Alternativen gibt oder Wetter oder Familie noch am Veranstaltungsmorgen etwas anderes sagen könnten: Man kann sich ja eh auch noch vor Ort anmelden, oder?

Alles verständlich. Alles nachvollziehbar. Bei und für jeden und jede auch voll okay.

Nur: Wie plant, organisiert und budgetiert man als Kleinstveranstalter da?

"Es ist ein bisserl vertrackt", sagt Alfred Sungi.

Foto: Tom Rottenberg

Erst recht, wenn ringsum ein breites und immer bunteres Füllhorn an Events in sehr unterschiedlichen Formaten angeboten wird: Was in meiner "Bubble" da meist als "Und"-Option wahr- und angenommen wird, steht für Durchschnittskonsumentinnen und -konsumenten oft höchstens als "Oder"-Variante auf dem Spielplan. Weil sich halt nicht jeder und jede immer und überall mit den neuesten oder seltsamsten Lauf-Spompanadeln auseinandersetzen will oder kann – so leiwand die auch klingeln mögen.

Womit wir bei Christoph Sander wären. Sander (im Bild mit Paula Vielhaber und Nora Havlinova) ist Kennern der Wiener Laufwelt unter anderem als Mann hinter der "Vienna Midsummer Tracknight" ein Begriff. Mittlerweile ist der 34-jährige "Laufpensionist" (Eigendefinition des einstigen Spitzenläufers) im Event-Team des Schweizer "On"-Labels gelandet – und zeichnet dort für die Abwicklung des On-"Squad-Race" in Österreich verantwortlich.

Foto: Lukas Pilz

Das "Squad-Race" findet am 10. September statt. Es ist eines jener ziemlich neuen und auf Laufen als Gemeinschaftserlebnis fokussierten Formate, auf die Hersteller und Marken in den letzten Jahren verstärkt setzen. Solche Events zielen auf Team- und Community-Bbuilding ab. Sie atmen ein bisserl Wettkampf-, vor allem aber Erlebnisluft. Das macht sie auch für "Normalos" attraktiv. Wichtig: Keiner dieser Events will sich auch nur eine Sekunde als Konkurrenz zu den "klassischen" Klein-, Dorf- und Gemeindeläufen sehen oder positionieren.

Dennoch: Im Buhlen um Aufmerksamkeit sind solche Veranstaltungen dann allein schon aufgrund von professionellen Newslettern, perfekten Social-Media-Auftritten und dem Bespielen etlicher anderer Infokanäle meist doch ein bisserl auffälliger als das Flugblatt, das ein Laufverein in ein paar Shops auflegt – oder auf seine Homepage stellt. Das ist systemimmanent.

Foto: (©On)

Die Schweizer Laufschuhmacher setzen das "Squad-Race" allerdings europaweit gleichzeitig in Szene. Es geht nicht nur um die Live-Events und Rennen am 9. und 10. September in acht europäischen Metropolen (neben Wien unter anderen auch in London, Berlin, Amsterdam oder Paris – man kann aber auch virtuell teilnehmen), sondern auch darum, was die Teams – die hier halt "Squads" heißen – zuvor an Trainingskilometern auf die Straße bringen.

Das System klingt ein wenig kompliziert: Ein Squad besteht aus mindestens sieben Personen (Frauenanteil: mindestens 30 %). Ziel oder Aufgabe jedes Squad ist es, sich durch möglichst viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Trainingsläufen und möglichst viele Trainingskilometer für das eigentliche Rennen eine gute Ausgangsposition zu schaffen.

Foto: On

Trainingskilometer und Teilnehmer werden nach einem nicht ganz einfach zu durchschauenden Schlüssel so umgerechnet, dass mehr zwar mehr bringt, aber eben doch nicht so, dass es egal wäre, wie das jeweilige Team dann beim 5-km-Bewerb am eigentlichen Wettkampftag "performt". Auf der Event-Homepage liest sich das so: "Die finale Gesamtzeit deines Squad ergibt sich aus der durchschnittlichen Zeit, die deine Läufer:innen am Wettkampftag für die 5-km-Strecke benötigen – minus der durchschnittlich gelaufenen Kilometer aus dem Training (1 Sekunde pro durchschnittlich gelaufenem Kilometer). Zusätzlich ziehen wir pro Teilnehmer:in am Wettkampftag 1 Sekunde ab (bis max. 100 Läufer:innen)."

Foto: On

Sie finden, das klingt ein wenig kompliziert? So, als sei ein abgeschlossenes Mathematikstudium Voraussetzung, hier mitmachen zu dürfen? Bin ganz bei Ihnen. Ich habe das System selbst auch noch nicht ganz behirnt, weiß aber, dass das Blunzen – im Sinne von "wurscht" – ist: In meinem Umfeld haben sich mittlerweile etliche Teams – Pardon: Squads – gebildet, die eifrig Kilometer sammeln und sich auf die 5-km-Finalläufe auf dem LAZ-Platz am 10. September freuen. Oder aber auf virtuelle App-Teilnahme.

Natürlich: Irgendwer wird gewinnen. Und die Schweizer spenden pro Laufnase einen fixen Betrag für Charity-Projekte. Aber im Grunde ist das, wie Johann K. einst sagte, "primär": Was zählt, ist die Freude. Der Spaß daran, sich zu bewegen.

Und falls dadurch bei dem einen oder der anderen das "Wettkampffieber" ausbricht: umso besser – aber wahrlich keine Grundvoraussetzung.

Foto: On

Lust auf die kleine Challenge mit anderen und vor allem sich selbst kann man aber auch auf andere Arten und Weisen machen. Etwa indem man Menschen spielerisch neugierig darauf macht, wie schnell sie selbst sind – und wie schnell "schnell" tatsächlich ist.

Der Wiener – mittlerweile – Klassiker ist da der "Kipchoge-Hunderter" auf der Hauptallee: Nach Eliud Kipchoges Sub-2-Stunden-Weltrekord über die Marathondistanz (ungleich "Marathonweltrekord"!) haben die Macher des Vienna City Marathon (die im Übrigen demnächst einen "Tribute to Eliud"-Event dort abhalten werden) dort eine 100-Meter-Strecke markiert. Die gilt es in knapp über 17 Sekunden zu schaffen: so schnell wie Eliud Kipchoge. Für viele "Hobetten" ist dieser einmalige 17er schon eine echte Challenge – Kipchoge lief ihn 420-mal. Ohne Verschnaufpause dazwischen.

Foto: Tom Rottenberg

Natürlich ließe sich das auch auf den vielen auf der Allee (aber auch auf der Insel, am Donaukanal und sonst wo markierten) Hundertern überprüfen. Aber wenn da "Beat Eliud" steht, fühlt es sich halt anders an. Oder wenn da wer mit einer Radarpistole herumfuchtelt: Ab und zu "spielt" ja jemand mit so was auch auf Laufstrecken – in der Regel als PR-Gag.

Ein bisserl elaborierter und mit einem noch einen Tick "amtlicheren" Anschein zog das letzte Woche ein Mobilfunkprovider auf der Hauptallee in Wien durch – und installierte für drei Tage eine beinahe "echte" Radarfalle.

Foto: Tom Rottenberg

Wir, eine Firmenlaufgruppe und ich, kamen da zufällig während des Aufbaus vorbei und ließen uns natürlich nicht zweimal bitten, da ein-, zwei- oder dreimal in die Falle zu "tappen".

Dass die Ergebnisse eher – sagen wir mal – "durchwachsen" waren, tat dem Spaß keinen Abbruch. Im Gegenteil: Mit freiem Auge hätten wir uns zwar ein bisserl schwergetan, die hier angeblich gemessenen Unterschiede zwischen vier und 50 km/h, einmal sogar 60 km/h, zu erkennen. Aber: Wer würde so ein Blitzerfoto schon infrage stellen?

Zur Ehrenrettung der Radarfalle sei hier der sie betreuende Techniker zitiert: "Das Teil ist noch nicht wirklich ganz genau kalibriert."

Foto: DreiSpeedbox

Was man mit diesem oder ähnlichem Wissen – egal ob auf Fotopapier aus dem Radardings ausgedruckt, in einem Wettkampf-Teilnahme-Onlinedokument oder per Squad-Race-Finishermedaille attestiert – dann anfängt?

Vermutlich wenig bis nix. Denn dass Sie zu jenem Promillesatz an Läuferinnen und Läufern gehören, die mit ihren Leistungen Geld verdienen können, nehme ich eher nicht an.

Dennoch kann es auch für Anna Durchschnitt und Otto Normalverbraucher hin und wieder lustig sein, dem lockeren Einfach-so-Laufen ein bisserl Würze zu geben. Oder so etwas wie Wettkampfluft zu schnuppern: niederschwellig, etwa bei Läufen wie jenem von Alfred Sungi. Gruppen- und erlebnisorientiert – wie beim Squad-Race oder anderen Community-Bewerben.

Und falls irgendwer eine Radarbox auf Ihrer Laufstrecke aufstellt: Sie können jetzt entweder über die Verkommerzialisierung und Werbeinstrumentalisierung von Sport lamentieren – oder einfach Spaß haben. Ich empfehle Letzteres.

(Tom Rottenberg, 30.8.22)

Die Lauf-Radarbox ist in den nächsten Tagen noch in anderen Städten zu finden. In Linz im Donaupark/Urfahr noch diesen Mittwoch, 31. 8., von 6.00 bis 20.00 – dann in Graz im Augarten. Von Freitag (2. 9.) bis Sonntag (4. 9.) jeweils von 6.00 bis 22.00 Uhr.


Weiterlesen:

Lauf den Canaletto: Hügelintervalle laufen im Belvedere-Park

Praxistest: Wie geht's beim Laufuhren-Umstieg?

Radar-Love: Das Radeln mit Rückblick-Kamera

Foto: DreiSpeedbox