Seit mehr als zwei Jahrzehnten sind Antipersonenminen durch die Ottawa-Konvention in weiten Teilen der Welt, nicht aber in Russland, verboten. Global geächtet sind sie trotzdem. In der Ukraine werden sie von russischer Seite dennoch immer wieder eingesetzt. Ein Gebiet von rund 160.000 Quadratkilometern, etwa die doppelte Fläche Österreichs, ist von Kampfhandlungen betroffen und gilt deshalb als potenziell kontaminiert – sei es mit Minen, Sprengfallen oder Munitionsblindgängern.

Oberst Horst Unterrieder, Kommandant der Heeresmunitionsanstalt Großmittel, kennt sich mit diesen Kriegsrelikten bestens aus. Fünf Jahre lang war er als Entminungsoffizier der Eufor-Mission in Bosnien-Herzegowina im Einsatz. Fast 30 Jahre nach Kriegsende wird das Land noch immer von Kampfmitteln befreit – ein Szenario, das auch der Ukraine droht, wie er sagt.

STANDARD: Wie schlimm steht es um die Kontamination der Ukraine mit Minen und Blindgängern?

Unterrieder: Auch in der Ukraine wird es irgendwann hoffentlich einen Frieden geben, aber bis dahin wird fast ausschließlich dort geräumt, wo es für die Kriegsparteien militärisch Sinn ergibt, das zu tun. Alles, was an Minen und anderen Kampfmitteln in den Kampfgebieten geräumt wird, dient dem eigenen operativen, taktischen Vorhaben, wie zum Beispiel dem Fördern der eigenen Bewegung oder dem Hemmen der Bewegung des Gegners. Für den zivilen Bereich erfolgt eine Räumung oft nur lokal und anlassbezogen. Nach einem Frieden geht es dann aber um die Rückführung aller vertriebenen und geflüchteten Ukrainer. Und da wird dann die große Frage sein, ob die Ukraine für sich selbst in der Lage sein wird, ein nationales Minenkompetenzzentrum zu schaffen, oder ob es etwa anfänglich unter internationale Führung, zum Beispiel der UN, gestellt wird. Es geht dann vor allem darum, alle Daten von kontaminiertem Gelände zu erfassen, auszuwerten, zu dokumentieren und einen Fahrplan für das humanitäre Minenräumen festzulegen.

STANDARD: Aber wir müssen davon ausgehen, dass rund 160.000 Quadratkilometer in der Ukraine theoretisch mit explosiven Kampfmitteln verseucht sind?

Unterrieder: Überall dort, wo gekämpft wird, muss man damit rechnen, ja. Bei den Russen zählt ja bekanntlich "Nur Masse ist Klasse", sprich: Da wird zunächst einmal alles mit Artillerie dem Erdboden gleichgemacht. Bei derart viel verschossener Munition können und werden natürlich Blindgänger dabei sein, sei es weil die Granate auf weichem Boden aufschlug oder ein Zünder deformiert wurde und nicht zündete. Wir wissen aber auch, dass Streumunition verschossen wurde, wo es von Haus aus etwa zehn Prozent Blindgänger gibt. Dazu kommt, dass Russland Antipersonenminen verwendet. Moskau trat der Ottawa-Konvention, dem Übereinkommen über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen, ja nicht bei. Und obwohl ein Großteil der Nationen diese Waffen ächtet, setzt sie Russland ein.

Oberst Unterrieder im Anti-Minen-Einsatz in Bosnien-Herzegowina.
Foto: Horst Unterrieder

STANDARD: Auch die USA traten der Ottawa-Konvention nicht bei und lieferten der Ukraine unter anderem Antipersonenminen vom Typ Claymore. Sie argumentieren es damit, dass diese kontrolliert verlegt und nur per Fernzündung ausgelöst werden und daher von der Konvention ausgenommen sind. Ist das eine gültige Argumentation?

Unterrieder: Die Claymore zählt nicht zu den Antipersonenminen. Sie ist eine sogenannte Richtsplitterladung, die wir auch im österreichischen Bundesheer verwenden. Sie kann elektrisch ferngezündet oder per Draht ausgelöst werden und soll einen herannahenden Feind abwehren. Richtsplitterladungen sind per Definition aber eben keine Antipersonenminen, sonst könnte Österreich, das diese Konvention ja ratifiziert hat, sie gar nicht besitzen oder gar verwenden.

Ukrainische Entminungsexperten bei der Arbeit.
Foto: APA/AFP/YASUYOSHI CHIBA

STANDARD: Aber welche militärische Bedeutung haben Antipersonen- und Antifahrzeugminen?

Unterrieder: Viele dieser Antipersonenminen sind extrem schwer zu detektieren, weil sie zum Großteil aus Kunststoff bestehen und daher selbst mit hochsensiblen Detektoren schwer zu detektieren sind. Die haben teils einen Metallgehalt von weniger als zwei Gramm. Zu den Antivehikelminen: Da werden mittlerweile Panzerminen neuerer Generation eingesetzt, die das Metall von Kampffahrzeugen durchdringen und Personen wie Material im Innenraum dieser Fahrzeuge unschädlich machen können. Selbsthergestellte Antifahrzeugminen kommen auch im terroristischen Bereich zum Einsatz. Wir lesen davon fast täglich in Afghanistan, im Irak, in Syrien und vielen anderen Ländern, wo Autobomben zum Einsatz kommen. In der Regel sind das terroristische Gruppierungen, die mit diesen improvisierten Spreng- und Brandvorrichtungen operieren. Auch in der Ukraine werden solche wohl eingesetzt.

STANDARD: Aber was ist der strategische Wert von Minen?

Unterrieder: Eine Mine ist leider eine sehr effektive Waffe, weil sie mir einen Soldaten ersetzt. Ein Gegner, der durch ein Minenfeld hindurchmuss, ist in seiner Bewegungsfreiheit natürlich gehemmt und büßt Zeit ein. Es braucht dann Pionierkräfte zum Räumen, oder man versucht mittels Großladungen eine Gasse durch eine verminte Fläche zu schlagen. Ziel ist es, einen Teil der Minen auszulösen, sodass man selbst hindurchgehen kann. Antipersonenminen haben aber auch den Sinn, dass ich nachts vor sich annähernden gegnerischen Truppen geschützt bin und nicht überrascht werde.

Verschiedenste Gerätschaften existieren zur Beseitigung von Minen in aktiven Kampfhandlungen. Teils werden ganze Landstriche mit einer Breite von bis zu 15 Metern und einer Länge von knapp 200 Metern einfach mit 1,5 Tonnen TNT freigesprengt, damit die eigenen Fahrzeuge weiter vorrücken können.
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STANDARD: Und ab welchem Gewicht lösen Minen für gewöhnlich aus?

Unterrieder: Das kommt auf die Bauart an. Ein Großteil der Minen wird durch Druck, etwa durch Draufsteigen, ausgelöst. Szenen, die man aus Filmen kennt, dass man draufsteigt und dann den Druck verlagert oder das Eigengewicht durch ein anderes Gewicht ersetzt, sind Blödsinn. Sobald man drauftritt, wird die Mine ausgelöst. Minen neuester Generation können aber alleine durch Annäherung oder Magnetfeldveränderungen ausgelöst werden. Die schlimmste Mine im Bosnienkrieg war etwa die Prom-1, eine Springmine, die durch Zug und Druck ausgelöst wird und zusätzlich meist noch mit Stolperdrähten verbunden wird. Sie springt dann rund einen Meter aus dem Gehäuse hinaus und detoniert in der Luft mit einer Ladung von 425 Gramm Sprengstoff, die wegen ihrer Splitterwirkung in einem Bereich bis zu 25 Metern tödlich ist.

STANDARD: Aus dem Ukraine-Krieg hören wir schreckliche Geschichten. Dass von Russen etwa Sprengfallen in Kinderzimmern hinterlassen wurden. Ist das die hässliche Fratze des Krieges?

Unterrieder: Ja, das ist leider oft Teil des Krieges. Der Einsatz von Sprengfallen oder von improvisierten Spreng- und Brandvorrichtungen, die oft auch von Terroristen genutzt werden, verschwimmt auch zusehends in diesen militärischen Einsatzgebieten. Früher ging es primär um den Schutz der eigenen Truppe oder darum, dem Gegner Schaden zuzufügen.

Eine Minenräumstelle in Bosnien-Herzegowina. Mehr als 600 Zivilistinnen und Zivilisten starben zwischen 1996 und 2019 bei Unfällen mit Minen, 55 Spezialisten bei Entminungsmissionen.
Foto: Unterrieder

STANDARD: Blicken wir noch einmal auf die Zeit nach dem Krieg. Westliche Staaten haben nun bereits Hilfe bei der Entminung angekündigt. Gibt es da einen ungefähren Zeithorizont, wie lang so eine Entminungsmission dauern wird?

Unterrieder: Nein, man weiß noch nicht, wie schwer die Kontamination tatsächlich ist. Da wird man auf Minenpläne, Minenvorfälle und Zeitzeugen für Interviews zurückgreifen müssen. Die Ukraine steht auch vor der schwierigen Entscheidung, was sie priorisieren will, wo zuerst entmint werden soll.

STANDARD: Aktuell begann man mit Bereichen der Landwirtschaft, um die Lebensmittelversorgung zu sichern und weil immer wieder Bauern Opfer von Minen wurden.

Unterrieder: Ja, natürlich. Da unterstützen nationale polizeiliche und militärische Kräfte, mit einer humanitären Entminungsmission im klassischen Sinne hat das aber noch nichts zu tun. Denn alles, was heute geräumt wird, kann schon morgen wieder beschossen werden.

STANDARD: Wir reden also von Jahren, eher Jahrzehnten?

Unterrieder: Natürlich. Mindestens einige Jahre, aber seriös kann man da einen Zeithorizont mit der wenigen Information, die man bis dato hat, nicht abschätzen. Der Bosnienkrieg war 1995 aus, 2022 haben wir noch immer rund 900 Quadratkilometer potenziell kontaminiertes Land. Da kommt es dann auch viel auf die Gönnerbereitschaft der internationalen Gemeinschaft an und ob das Geld dort ankommt, wo es auch hinsoll.

Gezielte Sprengung in der Ukraine.
Foto: APA/AFP/YASUYOSHI CHIBA

STANDARD: Könnte diese erneute schwere Verminung eines Landes der Ottawa-Konvention und dem tatsächlichen Ende von Minen neues Leben einhauchen, oder bleiben Minen ein Teil des Krieges?

Unterrieder: Minen werden in militärischen Konflikten immer ein probates Mittel sein, weil sie billig in der Anschaffung sind und ihren Auftrag erfüllen. Ein gänzliches Verbot für den Einsatz von Antipersonen würde natürlich absolut Sinn ergeben – ähnlich wie jenes für ein Verbot zum Einsatz von Streumunition. Am Ende ist es aber immer die Entscheidung jedes einzelnen Staates, diese Verbote national umzusetzen. (Fabian Sommavilla, 13.10.2022)