Der ehemalige deutsche Vizekanzler und Außenminister Joschka Fischer schreibt in seinem Gastkommentar darüber, "dass wir es heute mit einer großen Krise des Systems, unserer globalen Zivilisation zu tun haben".

Blickt man auf die heutige Welt, so fällt sofort die ungewöhnliche Häufung von Krisen inklusive der Rückkehr des Krieges auf dem europäischen Kontinent auf: von Covid über den Krieg in der Ukraine bis zu Krisen des Welthandels, Lieferketten, Inflation, Welternährung, globales Klima. Die bisherige Ordnung der Welt, keineswegs perfekt, aber insgesamt doch stabil und auf Zusammenarbeit gründend, scheint aus den Fugen zu geraten.

Eine nukleare Großmacht, Russland, hat seinen Nachbarn Ukraine ohne jeden nachvollziehbaren Grund überfallen und führt seit einem halben Jahr dort einen blutigen Eroberungskrieg, der eher in das Europa der vierziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts passt als in das Europa des Jahres 2022.

Führt seit sechs Monaten einen Angriffskrieg gegen die Ukraine: Russlands Präsident Wladimir Putin.
Foto: IMAGO/ITAR-TASS

Aber es ist nicht nur Osteuropa und die Ukraine, wo gerade eine Rückkehr des Krieges stattfindet. Ähnliches droht auch in der Taiwanstraße mit der eskalierenden militärischen Drohung seitens Festlandchinas gegenüber Taiwan und damit einhergehend der Gefahr einer direkten militärischen Konfrontation zwischen den beiden Supermächten des 21. Jahrhunderts, USA und China.

Und es sei hier auch nicht das iranische Nuklearprogramm vergessen, das ein permanentes Kriegsrisiko in einer auch ohne nukleare Aufladung schon seit langem hochbrisanten Region des Nahen und Mittleren Ostens in sich birgt.

Neue ökonomische Realität

Ukraine, Taiwan und Iran bilden das aktuelle, sehr gefährliche Krisendreieck der Weltpolitik, das die alte Weltordnung, wie sie sich aus dem Ende des Kalten Krieges heraus entwickelt hat, samt all ihren gewaltfreien Grundsätzen und der langjährigen Realität globaler Zusammenarbeit, zu zerstören droht. Auch die globalisierte Weltwirtschaftsordnung bleibt von dieser großen Destruktion nicht verschont, und mit ihr deren große materiellen Gewinner, die überwiegend im Westen und Ostasien zu Hause sind, wie etwa Deutschland. Die aktuelle Krise des Welthandels, zerbrochene Lieferketten und eine sich verschärfende Inflation rund um den Globus demonstrieren diese neue ökonomische Realität.

Damals, zu Beginn der neunziger Jahre im letzten Jahrhundert, als der Kalte Krieg zu Ende ging und dessen globale Blockkonfrontation gemeinsam mit der Sowjetunion verschwunden war, hatte der siegreiche Westen scheinbar noch ein überzeugendes Alternativangebot zur Verfügung: "Macht es wie wir – Marktwirtschaft und Demokratie öffnen den Pfad zu Entwicklung, Wohlstand und Stabilität!" Aber diese Formel hat jenseits von EU-Europa, Nordamerika und Ostasien (und auch dort nur eingeschränkt minus Demokratie, wenn man die wirtschaftliche Erfolgsgeschichte Chinas und anderer südostasiatischer Staaten sieht) nicht wirklich funktioniert.

"Der in unserer Zeit begonnene zweite Kalte Krieg wird durch die bessere und gerechtere globale Ordnungsalternative und die Fähigkeit zur Lösung der planetaren Klimakrise entschieden werden."

Wird die zurückgekehrte Großmachtrivalität, deren Folge all diese Kriegsrisiken sind, also als neue Systemkonfrontation zwischen dem demokratischen Westen und den beiden diktatorisch-autoritären Weltmächten China und Russland ausgetragen? Geht es zurück in einen erneuerten "zweiten" Kalten Krieg zwischen Demokratie und Diktatur?

Vieles spricht dafür, jedoch ist die Lage sehr viel schwieriger und komplizierter, als dies in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre der Fall gewesen war. Denn parallel zu den Kriegsrisiken hat sich im Sommer 2022 eine beispiellose Hitzewelle über China und Europa gelegt, die klar macht, dass die Menschheit den Klimaschutz und damit den Umbau der weltweiten Industriegesellschaften nicht weiter wird ignorieren können.

Der erste Kalte Krieg im 20. Jahrhundert wurde durch das nukleare Wettrüsten und die Überlegenheit des westlichen Systems entschieden. Der in unserer Zeit begonnene zweite Kalte Krieg wird durch die bessere und gerechtere globale Ordnungsalternative und die Fähigkeit zur Lösung der planetaren Klimakrise entschieden werden. Und wird dies ein Angebot für alle sein, für neun Milliarden Menschen auf allen Kontinenten?

Keine üblichen Krisen

Gewiss, die militärische Rüstung wird wichtig bleiben, um mögliche Gegner abzuschrecken und Sicherheit zu garantieren, aber die zentrale Entscheidung in dieser erneuten globalen Auseinandersetzung wird auf einem anderen Feld fallen.

All diese zahllosen Krisen in der Gegenwart weisen eindeutig darauf hin, dass es sich dabei nicht um die üblichen Krisen im Fortgang der Geschichte menschlicher Gesellschaften handelt, sondern dass sie Teil einer sehr viel größeren Veränderung sind. Es sind eben nicht Krisen innerhalb des Systems, die kommen und gehen und irgendwann hält die gewohnte Normalität wieder Einzug. Sondern alles deutet drauf hin, dass wir es heute mit einer großen Krise des Systems, unserer globalen Zivilisation zu tun haben. Ein neues System, ja eine neue Realität kündigt sich in all den großen Veränderungen an, bei der es keine Rückkehr zum Status quo ante geben wird, denn die Realitäten der menschengemachten Umweltzerstörung und der Klimakrise verhindern dies.

Wladimir Putins Aggression ist eine Gefahr, aber eine traditionelle, innerhalb des globalen Machtsystems wohl vertraute, mit der wir umzugehen wissen.

Steigende Temperaturen, austrocknende Flüsse und Landschaften, sinkende Ernteerträge und wegen Energieknappheit erzwungene Unterbrechung der industriellen Produktion – wie reagieren darauf die menschlichen Gesellschaften? Auch hier weiß man seit längerem, was zu tun ist, aber es geschieht nicht oder nur unzureichend und viel zu langsam. Warum? Weil dies einen Bruch, einen systemischen Umbau der gewohnten gesellschaftlichen und machtpolitischen Realitäten erfordern würde. Dazu sind die Staaten heute noch nicht bereit.

Die entscheidende Frage heute lautet: Wenn die Folgen der Klimakrise in Zukunft noch schärfer spürbarer werden, wird es dann schon zu spät sein für eine Umkehr, weil die entscheidenden Systeme des Weltklimas dann bereits unumkehrbare Kippunkte hin zu einer globalen Heißzeit überschritten haben? (Joschka Fischer, Copyright: Project Syndicate, 31.8.2022)