Böse Menschen haben keine Lieder, sagt der Volksmund. Ein Irrtum — auch im Dritten Reich drehte sich viel um die Musik, von den nationalsozialistischen Kampfliedern über Hitlers Wagner-Verehrung bis hin zu Schlagern wie "Lili Marleen". Bislang war die populäre Musik in der Zeit des deutschen Faschismus allerdings noch wenig erforscht.

Das soll sich nun ändern: In einem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten internationalen Projekt untersuchen derzeit Musikwissenschafterinnen und -wissenschafter die in der NS-Diktatur produzierte populäre Musik: Schlager, Kabarettchansons, Operetten und Filmmusik.

Zunächst blieb die Populärmusik in der NS-Zeit von Propaganda verschont. Mit dem Krieg änderte sich das.
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Neben dem Institut für Kirchenmusik und Musikwissenschaft der Universität Greifswald sind auf österreichischer Seite das Institut für Theorie und Geschichte der Anton-Bruckner-Privatuniversität Linz und die Abteilung für Musik- und Tanzwissenschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg beteiligt. Die wichtigste Forschungsgrundlage bilden die Archive der damaligen Musikverlage.

Diese waren bisher schwer zugänglich, vieles blieb unter Verschluss. Erfreulicherweise ändere sich das jetzt, berichtet die Leiterin des Linzer Teams, Carolin Stahrenberg: "In den letzten Jahren haben sich einige neue Quellen eröffnet. Einerseits sind Bestände in die öffentliche Hand übergegangen, andererseits haben wir direkten Zugang in den Verlagen bekommen."

Diktatur und Populärmusik

Weitere Quellen sind etwa das Notenarchiv der Verwertungsgesellschaft AKM oder Nachlässe populärer Komponisten wie Nico Dostal oder Fred Raymond, Schöpfer des 20er-Jahre-Gassenhauers "Ich hab’ mein Herz in Heidelberg verloren". Dabei interessieren sich die Forschenden vor allem für das komplexe Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft: "Wir wollen sehen, wie groß die Einflussnahme der Diktatur auf die Produktion populärer Musik war oder ob diese Prozesse eher vom Markt reguliert wurden."

Populärmusik ist Stahrenberg zufolge schnell dem Vorwurf ausgesetzt, sich besonders gut für eine politische Vereinnahmung und den Transport ideologischer Inhalte zu eignen. "Dabei ist das bei populärer Kultur eigentlich genau andersherum: Es gibt eben keine Subventionierung von oben, wo entschieden wird, sondern der Markt ist das Regulativ. Das heißt: Entscheidend ist, was gekauft wird."

Stahrenbergs Salzburger Kollegen Nils Grosch zufolge liegt hier das Spannungsfeld: "Wie funktioniert in einem Staat, der auch in kultureller Hinsicht alles auf eine bestimmte Linie einschwören möchte, die Kontrolle in einem Bereich, der primär kommerziellen Gesetzen gehorcht?" Für Musikproduzierende ging es — wie auch heute — darum, inhaltliche Entscheidungen danach zu richten, was sich gut verkauft. Und das war in der damaligen Zeit auch im deutschsprachigen Bereich vieles, was international angesagt war.

Die Macht der Verlage

"Die Musikverlage haben wichtige Entscheidungen getroffen und waren die kommunikativen Mittler zwischen den Komponisten und dem Publikum. Dabei geht es immer darum, welche Genres auf dem Markt gebraucht und vom Publikum nachgefragt werden — und welche eben nicht", erklärt Grosch. Die Musikproduktion jener Zeit sei dadurch deutlich vielfältiger gewesen, als man es bei diesem Unterdrückungsstaat vermuten würde: Ein Verbot von Jazz oder Swing habe es — wie häufig angenommen — zum Beispiel so nicht gegeben.

"Da gibt es sehr viele Vorurteile, dass auch auf stilistischer Ebene bestimmte Dinge nicht erlaubt waren. Der Begriff ‚entartete Musik‘ hat sich sehr ins öffentliche Bewusstsein gedrängt als Indikator dafür, dass es im Dritten Reich eine umfassende, auch stilistisch interessierte Kulturpolitik gab." Das sei inzwischen in vielerlei Hinsicht zu Recht infrage gestellt worden.

Nach 1933 herrschte im deutschen Kulturbetrieb zunächst noch große Unklarheit, welche Musik man produzieren und aufführen durfte. Die Frage war vor allem, wie man mit Werken von Komponisten umgehen sollte, von denen jeder wusste, dass sie Juden waren. Der einschneidende kulturpolitische Schritt im Dritten Reich betraf schließlich weniger die Kunst als die Kunstschaffenden. Denn auch hier galt wie überall die rassistische Vorgabe, jüdische und andere "nicht-arische" Menschen keinesfalls mehr am sozialen Leben teilhaben zu lassen und sie mit Zwang, Gewalt und Mord aus der Gesellschaft zu entfernen.

Verbotenes "Weißes Rössl"

Dieser Wahnsinn machte dann selbst vor Werken nicht halt, die inhaltlich unpolitisch und formal eher konventionell waren. Die Operette "Im weißen Rössl" etwa wurde 1935 verboten, weil sie großteils von einem jüdischen Komponistenkollektiv stammte. Die um einen großen Hit gebrachten Musikproduzenten reagierten pragmatisch mit einer Kopie: Das vom Stoff und der Musik her sehr dem österreichischen Original ähnelnde Singspiel "Saison in Salzburg" wurde 1938 in Kiel uraufgeführt und anschließend im ganzen Reich ein großer Erfolg.

In der Populärmusik ist in den ersten Jahren nach der Machtübernahme der Nazis vom folgenschweren politischen Wandel also noch wenig zu hören. Das ändert sich aber nach dem Überfall auf Polen 1939: Stetig werden mehr Ressourcen dem Militär zugeordnet und somit weniger Lieder produziert. Viele Männer kämpfen und komponieren nicht mehr. Die populäre Musik erhält eine neue Rolle.

"Der Zugriff des NS-Staates auf die Musik wird erst nach Kriegsbeginn intensiviert. Je stärker der Krieg nicht mehr nur nach außen geht, sondern auch als Bedrohung nach innen empfunden wird, desto mehr bekommt die populäre Musik eine neue Funktion."

Das Regime setzt nun vor allem auf "Durchhalteschlager". Das bekannteste Beispiel stammt aus dem Jahr 1942 – gesungen von Zarah Leander: "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n". Das besungene Wunder blieb der zu diesem Zeitpunkt bereits dem Untergang geweihten NS-Diktatur zum Glück verwehrt. (Johannes Lau, 4.9.2022)