Die Wahlen gewonnen und ein paar Monate danach die Lunte angezündet: Dem Schiitenführer Muktada al-Sadr die alleinige Verantwortung dafür zuzuschreiben, dass es seit Wochenbeginn in Teilen des Irak zu bürgerkriegsartigen Szenen kommt, wird der politischen Komplexität der Lage nicht gerecht. Aber beim Champion des schiitischen Subproletariats ist es ein altes Muster: Seit Jahren mobilisiert er immer wieder seine Massen für politische Zwecke. Der Sturm auf das Parlament und andere Institutionen – diesmal Regierungspalast, vor kurzem das Oberste Gericht – in der ehemaligen Grünen oder Internationalen Zone (IZ) gehört zum fixen Instrumentarium. Und nicht zum ersten Mal verliert er die Kontrolle.

Seit einem Monat dringen die oft jugendlichen Anhänger von Muktada al-Sadr immer wieder in öffentliche Gebäude vor, zuletzt stürmten sie den Regierungspalast in Bagdad.
Foto: AP / Hadi Mizban

Seinen Rückzug verkündete der mittlerweile 48-Jährige auch schon öfter, er ist der irakische Mister "Ich bin schon weg". Diesmal hat das den Zorn seiner Anhängerschaft ins Unermessliche gesteigert, die nicht nur in Bagdad randalierte, sondern im Südirak teilweise öffentliche Gebäude übernahm. Sie trafen auf die Milizen anderer schiitischer Parteien, es kam zu schweren Schießereien, die offizielle Todeszahl von unter 30 dürfte untertrieben sein. Auch die irakischen Sicherheitskräfte schritten ein.

Sadr trat daraufhin in den Hungerstreik, so lange, ließ er verlauten, bis wieder Ruhe eingekehrt sei. Bis Dienstagabend hatte sich die Lage etwas entspannt, der Ausnahmezustand wurde wieder aufgehoben. Sadr hatte zuvor seine Anhängerschaft via TV zum Abzug aus der IZ aufgerufen und Disziplin eingemahnt. Irakisches Blut dürfe nicht vergossen werden. Bei der irakischen Bevölkerung entschuldigte er sich. Die meisten seiner Gefolgsleute in Bagdad folgten ihm, viele hofften, er würde seine Entscheidung, der Politik den Rücken zu kehren, rückgängig machen. Premier Mustafa al-Kadhimi – der nur im Amt ist, weil die Regierungsbildung nach den Wahlen im Oktober scheiterte – drohte mit Rücktritt.

Schiitenblöcke

Was zuvor geschah, vereinfacht erzählt: Sadr hat, wie schon 2018, die Parlamentswahlen im Oktober 2021 gewonnen. Obwohl seine Gegenspieler, die mit dem Iran alliierten Schiiten (de facto politischer Arm der Iran-treuen schiitischen Milizen), diesmal geschwächt wurden, gelang es Sadrs Allianz mit Kurden und Sunniten nicht, im Parlament einen Staatspräsidenten wählen zu lassen, der einen Premierskandidaten aus seinen Reihen hätte designieren können.

Hier spielt auch die uralte innerkurdische Spaltung zwischen KPD (Barzani-Partei) und PUK (Talabani-Partei) mit. Der irakische Präsident ist seit 2005 ein Kurde aus der PUK, derzeit Barham Salih. Hatte sich die KDP 2018 noch einmal damit abgefunden, wollte sie diesmal das Amt jedoch endgültig für sich. Nicht nur die irakischen Schiiten sind gespalten, das gilt auch für die Kurden.

Zurück zu Sadr: Als klar wurde, dass er seine Regierung – an der er persönlich nicht beteiligt gewesen wäre, er bekleidet nie ein Amt – nicht zustande bringen würde, zog er seine Abgeordneten aus dem Parlament zurück. Mit der absurden Folge, dass seine Gegner, darunter auch der frühere Premier Nuri al-Maliki, numerisch endgültig als stärkste Kraft dastanden und zur Regierungsbildung anhoben. Da begann Sadrs übliche Mobilisierung auf der Straße, die seit einem guten Monat läuft. Einmal rein und einmal raus aus der IZ. Sadr hat auch eine Miliz, die Saraya al-Salam.

Als Sadr dann am Montag verkündete, dass er alle Parteibüros schließen und die Politik endgültig (?) verlassen würde, kochte der Zorn seiner Anhänger erst recht über. Es waren Bilder von wild um sich schießenden jungen Männern zu sehen, teilweise wurden mit dem Iran verbundene Symbole angegriffen: So wurden Bilder des im Jänner 2020 von den USA getöteten iranischen Quds-Brigaden-Generals Ghassem Soleimani, ein Idol aller Iran-treuen Milizen in der ganzen Region, zerstört.

Frage des Ayatollahs

Die Geschichte hat auch noch einen scheinbar religiösen Strang, der jedoch in Wahrheit ebenfalls stark politisch ist. Muktada al-Sadr, der seine Jugend auf der Flucht vor Saddam Hussein im Untergrund verbringen musste, hat als Geistlicher einen sehr geringen Stand: Das heißt, als religiösen Lehrer brauchen seine Anhänger einen anderen, theologisch gewichtigeren Mullah. Im Irak gibt es mehrere Großayatollahs, der stärkste – er hat unter den Schiiten weltweit Bedeutung – ist Ali Sistani, den Sadr aber nach 2003 als passiv und unpolitisch kritisierte und ihm vorwarf, ein Iraner zu sein (Sistani ist aber kein Vertreter des iranischen politischen Systems).

Der Ayatollah vieler Sadristen war bisher Ayatollah Kadhim Haeri im iranischen Ghom, der Klerikerfamilie Sadr – Muktadas Vater und Onkel – einst eng verbunden und Mitgründer der irakischen Schiitenpartei Dawa. Der 84-Jährige gab nun ebenfalls seinen Rückzug als schiitische Lehrinstanz bekannt. Das ist sehr ungewöhnlich, Ayatollahs pflegen normalerweise aus ihrem Amt herauszusterben. Und am schlimmsten: Haeri empfahl seinen Anhängern, in Zukunft Ali Khamenei – dem geistlichen Führer des Iran – zu folgen.

Trotz ihrer Verbindung hatte Haeri Sadr zuletzt stark kritisiert, erklärt der Islamwissenschafter Reinhard Schulze auf Anfrage des STANDARD auf Twitter. Er sah die Gefahr, dass "Sadrs Revolte zu einer Revolte gegen die schiitische Autoritätsordnung" werden würde.

Für die Sadristen ist Haeris Verneigung vor Khamenei ein politischer Affront. Sadr hat sich zwar immer wieder Teheran gefügt und wurde im Kampf gegen die USA nach dem Sturz Saddams und im späteren Bürgerkrieg gegen die Sunniten von dort unterstützt. Gleichzeitig stilisierte er sich als irakischer Nationalist, gegen die iranische Hegemonie. (ANALYSE: Gudrun Harrer, 31.8.2022)