Auf ihre ganz eigene Art unglücklich: Silvia Meisterle als Josefstadt-Titelheldin in "Anna Karenina" (mit Florian Brenner als Serjoscha).

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Niemand wusste das Lebenselend fester an der Wurzel zu packen als Leo Tolstoi. Bereits im ersten Satz seiner Anna Karenina benannte er das Grundprinzip bürgerlicher Moralität: "Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist unglücklich auf ihre Art". Und so verrät der Auftakt des Wiener Theaterherbsts die unverminderte Geltung bürgerlicher Anschauungsweisen. Heute, Donnerstag, zeigt das Josefstadt-Theater seine Dramatisierung des Ehebrecherinnenromans: in einer Fassung von Armin Petras und Amélie Niermeyer, wobei letztere Regie führt. In der Titelrolle ist Silvia Meisterle, eisern verlässliche Ensemblekraft, zu bewundern (19.30).

Bereits tags darauf enthüllt das Wiener Akademietheater mit der Übernahme von Schnitzlers Das weite Land (Regie: Barbara Frey) aus dem Ruhr-Pott (19.00) einen weiteren Konfliktherd im bürgerlichen Triebhaushalt: das klägliche Scheitern des Freiheitsbegriffs "in eroticis". Als egozentrischer Glühbirnenfabrikant Hofreiter ist Michael Maertens zu sehen, Gemahlin Genia wird von Katharina Lorenz gespielt. Schon am Sonntag legt die Burg mit der Übernahme von Fleißers Ingolstadt aus Salzburg nach.

Am Samstag, den 3.9., zeigen die Kammerspiele Die Ziege oder Wer ist Sylvia (Regie: Elmar Goerden): Edward Albees Groteske über das pathologische Verfehlen des Triebziels. Am nämlichen Tag schaltet sich das Volkstheater in den Wiener Premierenreigen ein. US-Aktionist Paul McCarthy hat sich für die auf vier Abende verteilte 15-Stunden-Performance NV / Night Vater / Vienna mit Schauspielerin Lilith Stangenberg zusammengetan (Sa., Di., Mi. 19.30, So. 18.00). Der garantiert nicht unblutige Stoff dockt an den Kultfilm The Night Porter (1974, mit Charlotte Rampling und Dork Bogarde) an und reproduziert die Kreisläufe von Gewalt und Ausbeutung. (Ronald Pohl, 1.9.2022))