Es war im Wortsinn kurz vor zwölf: Kurz vor Mitternacht am letzten Tag ihrer Amtszeit hat die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michele Bachelet, doch noch den Bericht über die Lage der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang veröffentlicht.

Der langerwartete Bericht spricht von "glaubwürdigen Beweisen" für schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Uiguren und andere Minderheiten. Es gebe Muster von Misshandlungen und sexueller Gewalt. "Das Ausmaß der willkürlichen und diskriminierenden Inhaftierung von Angehörigen der Uiguren und anderen überwiegend muslimischen Gruppen (...) könnte internationale Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, darstellen", heißt es in dem Bericht.

Lange musste die Öffentlichkeit auf den UN-Bericht über die Lage der Uiguren warten.
Foto: REUTERS/Pierre Albouy

Exilgruppen wie der Weltkongress der Uiguren (WUC) begrüßten die Veröffentlichung: "Dieser UN-Bericht ist extrem wichtig. Es ebnet den Weg für sinnvolle und konkrete Maßnahmen der Mitgliedsstaaten, der UN-Gremien und der Geschäftswelt", sagte WUC-Präsident Dolkun Isa. "Verantwortung beginnt jetzt." Andere sprachen von einem "Gamechanger" hinsichtlich der internationalen Reaktion auf die Menschenrechtsverbrechen. Der Bericht empfiehlt allen Staaten, von einer Auslieferung von Uiguren und anderen Minderheiten nach China abzusehen.

Folter und Gehirnwäsche

In der Provinz Xinjiang im Westen des Landes hat die Kommunistische Partei Chinas in den vergangenen Jahren ein Lagersystem errichtet, in dem Millionen Uiguren "umerzogen" werden sollen. Wer die monatelange Haft mit Folter und Gehirnwäsche überlebt, findet sich in einem "Freiluftgefängnis" wieder, wo modernste Überwachungstechnologie in kleinste Bereiche des Lebens eindringt. Xinjiang war ursprünglich vom muslimischen Turkvolk der Uiguren und anderen Minderheiten bewohnt. Seit der Machtergreifung der Kommunisten 1949 betreibt Peking dort eine aktive Siedlungspolitik, sodass die Uiguren nur noch knapp die Hälfte der Bevölkerung stellen.

China machte Druck, den Bericht unter Verschluss zu halten.
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Die Erkenntnisse über die Lager in Xinjiang speisen sich derzeit aus mehreren Quellen: Es gibt Augenzeugenberichte von Überlebenden, denen die Ausreise gelungen ist. Das "Uyghur Tribunal" in London hat zahlreiche davon gesammelt und veröffentlicht. Hinzu kommt die Auswertung von Daten und Dokumenten, die die massiven Menschrechtsverletzungen belegen. Dafür verantwortlich ist vor allem der Aktivist Adrian Zenz. Für Korrespondenten ist es in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden, aus der Provinz zu berichten. Aber zahlreiche Berichte belegen eine angespannte Atmosphäre und eine Form der Überwachung, die einer digitalen Dystopie ähnelt.

Skepsis über Reise

Bachelet war nach einem langen Tauziehen im Mai schließlich in die Provinz Xinjiang gereist, um sich ein Bild von der Lage zu machen. Menschenrechtsgruppen hatten ihre Reise skeptisch gesehen: Die chinesische Regierung versucht seit Jahren – teils mit Erfolg – ausländischen Besuchern ein heiteres Bild vorzuspielen. So werden tanzende Uiguren den Besuchern vorgeführt und auf das Wirtschaftswachstum der Provinz hingewiesen. Kritiker befürchteten, dass auch die Menschenrechtskommissarin der UN Opfer dieser Inszenierung werden würde. Ein Vorabbericht deutete tatsächlich auf große Zurückhaltung hin. So bediente sich Bachelet des Vokabulars Pekings und sprach von "Zentren für berufliche Bildung und Ausbildung" anstatt von Internierungslagern.

Vor einigen Monaten wurden weitere erschreckende Details über Chinas Umgang mit den Uiguren bekannt.
Foto: THE VICTIMS OF COMMUNISM MEMORIAL FOUNDATION / AFP

Der Weltkongress der Uiguren hatte seit längerem auf eine Veröffentlichung des Berichts gedrängt. Der Bericht sei seit Monaten fertig, hatte WUC-Präsident Dolkun Isa noch im Mai dem STANDARD gesagt. Auf Druck Pekings haben die Vereinten Nationen die Veröffentlichung aber zurückgehalten.

Tatsächlich hatte Peking Druck auf die UN ausgeübt. Die Vorwürfe bezeichnet die chinesische Presse als "westliche Propaganda" und den Bericht als "Farce". Bachelet wiederum sagte am Mittwoch, sie sei unter immensem Druck gestanden. Sie habe auch einen Brief von 40 Regierungen erhalten, die auf eine Veröffentlichung des Berichts drängten. Eine weitere Gruppe wiederum solidarisierte sich mit China und wollte den Bericht in einer Schublade verschwinden sehen. (Philipp Mattheis, 1.9.2022)