Fünf Tage, fünf Bilder: Immer zu einer anderen Tageszeit fordert Be Real Nutzer auf, einen Schnappschuss zu machen, um die alltäglichen Momente mit Freunden und der Familie zu teilen.

Foto: Sophie Werner

Liebes Tagebuch, ich habe eine neue Flamme, und er ist ... anders. Nicht so fake wie die anderen, will nicht die ganze Zeit mit mir rumhängen, und auch sonst mag ich einfach diese ungewohnte Echtheit. Ich verrate dir, wie er heißt: Be Real.

Die Foto-App wurde 2020 als Reaktion auf den Schönheitshype anderer sozialer Netzwerke ins Leben gerufen und identifiziert sich als Plattform für authentisches, spontanes Teilen. Be Real will das echte Leben festhalten und mit Freunden und der Familie teilen, indem jeden Tag zu einer anderen Zeit allen Nutzern weltweit eine Benachrichtigung zum Fotomachen geschickt wird. Dieser Aufforderung muss man innerhalb von zwei Minuten nachkommen, um im Gegenzug die Schnappschüsse seiner Kontakte zu sehen. Die Idee trifft den Zeitgeist und macht Be Real zur derzeit meistgeladenen kostenlosen App in Apples Katalog. Ob der Pitch hält, was er verspricht? Ich habe kürzlich versucht, es herauszufinden.

Montag, 29. August

Das Set-up ist schnell erledigt. Push-Nachrichten deaktiviere ich zwar grundsätzlich bei Apps, aber ohne Benachrichtigung kein Be Real. Der zweite und vielleicht psychologisch wertvollere Punkt war das Erstellen einer Freundesliste für die App. Be Real durchleuchtet die Kontakte und schlägt dann vor, sich mit all jenen, die die App ebenfalls installiert haben, zu vernetzen. Die Liste potenzieller Kandidaten war in meinem Fall überraschend überschaubar. Vielleicht ist die App noch nicht vollends in Österreich angekommen. Vielleicht schwimme ich mit meinen 23 Jahren irgendwo im Nirwana zwischen Millennial und Gen Z, und meine Kontakte stellen deswegen nicht die Zielgruppe dar? Wie auch immer, im letzten Schritt habe ich dann für mich selbst entscheiden müssen, mit wem ich die alltäglichen Momente teilen will. Jede Menge Denkanstöße zum Thema soziale Medien bekomme ich also bereits am ersten Tag mit der App.

Mein erstes Be Real hat dann einen sehr echten Moment beim Kochen im Pyjama eingefangen, ehrlicherweise eine Minute zu spät. Ich war gerade dabei, Gemüse zu marinieren, als der leuchtende Handybildschirm mich zum Handeln aufforderte. Meine Arbeit konnte bzw. wollte ich nicht in der Sekunde unterbrechen. Bei der Fotoaufnahme werden beide Kamerarichtungen aktiviert, es gab also auf der einen Seite Daumen hoch, prominente Pickel auf der Stirn und Lachen von mir, auf der anderen Seite ein Backblech mit mariniertem Gemüse. Echter wird es wohl nicht. Die verspätete Aufnahme wird übrigens als solche gekennzeichnet, hindert aber nicht an der Einsicht der Bilder durch Freunde. Die Bilder meiner Kontakte kann ich dann auch noch kommentieren, oder ich kann ihnen ein sogenanntes Realmoji schicken. Also ein Emoji, aber mit meinem Gesicht. Zwischenfazit: Ich bin gespannt, die Entwicklung meiner Hautunreinheit mit Be Real zu dokumentieren.

Be Real, Tag eins: Gegen acht Uhr abends kam die Aufforderung, ein Foto zu machen – ich bin motiviert, und mein Abendessen ist bereit für den Ofen.
Foto: BeReal / Sophie Werner

Dienstag, 30. August

Der zweite Tag begann mit kernjournalistischer Arbeit: Fragen stellen. In redaktioneller Verantwortung bin ich also direkt zur Quelle. Die PR-Abteilung von Be Real teilte mir in einem Zweizeiler allerdings mit, dass derzeit keine Interviews gegeben werden. Man hat dem Mailverkehr aber zumindest ein dünnes Presse-Fact-Sheet beigefügt.

First things first: die Finanzierungsfrage, denn Be Real schaltet keine Werbung und steht kostenlos zum Download bereit. Laut Fact-Sheet finanziert man sich durch Investoren und konnte in der ersten Finanzierungsrunde 30 Millionen akquirieren. Das Kapital lässt darauf schließen, dass Investoren der Philosophie oder zumindest der Geschäftsidee von Be Real etwas abgewinnen können. Ein Ort, an dem man sich wohlfühlt und keine Vergleiche mit unrealistischen Standards angeheizt werden, als Alternative zu den sozialen Medien mit hohem Suchtpotenzial. Hat diese Idee Zukunft, oder könnte man sich dann nicht gleich gänzlich von sozialen Plattformen abwenden und im realen Leben Momente schaffen?

Social-Media-Managerin Sarah Gangl beschreibt die Faszination mit Be Real so: "Die App ist besonders attraktiv für Leute, die sich nicht unbedingt in Szene setzen wollen, denn auf Instagram hat man mit dieser Einstellung fast keine Daseinsberechtigung. Inszenierung ist der Status quo." Ein Beispiel von Gangl setzt das verständlich in Kontext: "Auf Instagram ist der Sonntagmorgen eine nahezu perfekt angerichtete Acai-Bowl, auf Be Real sind Leute am Sonntagmorgen im Bett. Es ist nämlich ganz normal, nicht immer brunchen zu sein." Ich pflichte ihr bei, es war ungewohnt zu sehen, dass Menschen einfach nur fernsehen oder zocken, obwohl das viel realistischer ist, als jeden Wochentag auf einem Festival zu stehen oder leuchtende Wodkaflaschen durch den Club zu tragen.

Monotonie hat aber auch einiges Potenzial für Langeweile, die wahrscheinlich größte Gefahr für eine soziale Plattform. "Be Real ist aber mehr ein Spiel mit Quests und der Möglichkeit, spielerisch auf das Handeln von Freunden mit Kommentaren oder Realmojis zu reagieren. Ebenjene Nähe zum Spiel macht es aber auch schwierig, den Hype längerfristig zu bewahren", erklärt Gangl. Soziale Medien erfinden im Akkord neue Features oder Filter, um sicherzugehen, dass Nutzerinnen und Nutzer weiterhin Zeit mit der App verbringen wollen.

Apropos Monotonie, mein Schnappschuss am zweiten Tag zeigte mich wieder daheim in meinem natürlichen Habitat: am Schreibtisch mit einem Getränk für Erwachsene in der Hand, Pickel intakt.

Mittwoch, 31. August

Halbzeit – und ich warte nur auf den Tag, an dem mich die Be-Real-Benachrichtigung beim Toilettengang überrascht! Weniger überraschend ist der Fakt, dass mich die App nach drei Tagen noch nicht in ihren Bann gezogen hat. Eigentlich eine recht gesunde Entwicklung, mein Daumen macht ohnehin mehr Kilometer als mein Schrittzähler. Obgleich ich also nicht wirklich Bedarf für Be Real habe, es hat mir im wahrsten Sinne des Wortes vor Augen gehalten, dass das echte Leben und inszenierte Postings in den sozialen Medien nicht viel gemeinsam haben. Den flüchtigen Gedanken, dass ich am Abend aber auch einmal etwas unternehmen sollte, kann ich trotzdem nicht abstreiten.

Primär teilt man über die App Fotos mit Freunden und der Familie, es gibt jedoch die Option, Inhalte mit allen Be-Real-Nutzern über die Discovery-Einstellung zu teilen. Was Jules Verne in 80 Tagen vollbracht hat, schaffe ich mit diesem Feature in unter 80 Sekunden — von einem Vorort in Tennessee zu Streetfood in Mumbai und Richtung Rushhour mit der malaysischen U-Bahn.

Das Beste daran ist aber nicht die Geschwindigkeit der Erfahrung, sondern der Inhalt, der nicht von einem hyperstilisierten Reiseblog stammt. Vielmehr mich lässt er mich einfach nur für ein paar Augenblicke an einem anderen, weit entfernten Leben teilhaben.

Foto: BeReal

Mein tägliches Foto hat sich hingegen nicht so weit entfernt. Zum dritten Mal in Folge wurde meine Wohnung zum Fotomodell. Das Accessoire des Tages ist mittlerweile ein langsam verblassendes Einhorn auf meiner Stirn.

Donnerstag, 1. September

Überraschung! Mein Wohnzimmer wurde durch den STANDARD-Konferenzraum ersetzt. Ressortleitung und versammelte Mannschaft haben am vierten Tag in die Kamera gelacht und mich mit Bildbeweis von meinem Einsiedlerdasein erlöst. In den letzten Tagen habe ich zwar keinen Druck zu posten verspürt, aber die visuelle Einheitlichkeit meiner Fotoserie hat mir zu denken gegeben. Andere Nutzer haben ähnliche Erfahrungen gemacht.

"Carpe diem", aber mach ein Foto davon — die Essenz von Be Real und eine zentrale Frage für Nutzerinnen und Nutzer. Fühlt man sich von der App unter Druck gesetzt? Verpflichtet zu posten bin ich nicht, aber es ist die Voraussetzung, um auf die Fotos meiner Kontakte zuzugreifen. Nach vier Tagen Selbsterfahrung ist es an der Zeit, ein wenig Meinungsvielfalt zuzulassen.

Ali ist Studentin und ihre Einstellung zu Be Real positiv. "Ich freu mich zu posten, und es ist ja auch nur einmal am Tag, das nimmt ein wenig den Druck raus", kontrastiert sie Be Real mit Instagram. Dort sei der Druck viel größer, weil es auf der einen Seite ein Aushängeschild fürs Leben ist und auf der anderen keine quantitative Einschränkung besteht. Marketingleiter Patrick empfindet lediglich den Fakt, dass einem durch das Nichtposten die Inhalte von Freunden vorenthalten werden, als eine Form von sanftem Druck. Sonst wiegt er sich allerdings in Gelassenheit: "Wenn mir danach ist, etwas zu posten, wenn die Benachrichtigung kommt, dann mach ich es und sonst eben nicht."

Für Perfektionisten ist Instagram ein Bälleparadies für Erwachsene, Be Real ist da eher die einsame Schaukel im Plattenbau. Die kuratierte ästhetische Komponente macht für mich auch den Reiz von Instagram aus. Momente, die es nicht ins Fotoalbum schaffen, finden den Weg in die Versenkung der Whatsapp-Fotosammlungen. Eine zusätzliche App braucht es dafür nicht, als Alternative zu Instagram bietet Be Real zu wenig.

Freitag, 2. September

Auch die längste Woche hat ein Ende und mit ihr der Be-Real-Selbstversuch. Ich darf also resümieren: Be Real als soziale Alternative zu Instagram oder Tiktok, davon bin ich nicht überzeugt – jetzt hab ich es gesagt.

Die Idee, einen Raum für mehr Echtheit und Authentizität zu schaffen, finde ich wichtig und in Anbetracht der realen Auswirkungen, die soziale Medien haben, auch notwendig. Die Idee von Be Real hat das Ziel aber ein wenig verfehlt. Als spielerisches Element im Alltag – mit zugegebenermaßen ziemlich vielen Bugs – völlig in Ordnung, die kleinen Schmunzelmomente über den Tag verteilt korrelieren allerdings selten mit dem zweiminütigen Zeitfenster. Ein bisschen mehr Ehrlichkeit im realen Leben – mit sich selbst und seinen Liebsten – wird mehr Wirkung zeigen als eine Aufforderung zum schnellen Schnappschussmachen.

Von meinem sehr authentischen Lieblingsmoment diese Woche habe ich übrigens kein Foto gemacht. Wie halb Wien war ich am 1. 9. beim Ed-Sheeran-Konzert im Ernst-Happel-Stadion. Zur Ballade "Perfect" hat Sheeran mit ein paar persönlichen Worten zum Vatersein und zum Familienleben eingeleitet. Getaucht in ein Lichtermeer von Handykameras, stand neben mir in der Menge ein Vater mit seiner Tochter. Beide sind vorsichtig im Takt mitgeschwungen, und der graumelierte, gestandene Mann kam nicht mit dem Tränenwegwischen nach. Das ist das echte Leben, und es hat keine App gebraucht, um diesen Moment für mich festzuhalten.

Es wäre aber auch heuchlerisch, zu behaupten, ich hätte das Konzert überhaupt nicht digital dokumentiert. Auf Instagram hat die Woche so ausgesehen:

Be Real erwischt mich an vier von fünf Tagen allein zu Hause.

PS: Ich glaub, das mit meiner Flamme wird nichts, er ist doch irgendwie langweilig.
PPS: Mein Pickel ist weg. (Sophie M. Werner, 3.9.2022)