Der Druck auf den Hohen Repräsentanten für Bosnien, Christian Schmidt, das Wahlgesetz doch noch – mitten im Wahlkampf – zu ändern, stieg zuletzt wieder. Der Chef der kroatisch-nationalistischen HDZ, Dragan Čović – er fordert eine Änderung seit vielen Jahren, weil er damit die Macht der HDZ absichern will –, meinte, dass er am Donnerstag eine endgültige Entscheidung von Schmidt erwarte; ansonsten würde er sich unglaubwürdig machen.

Am Donnerstag fand tatsächlich eine Sitzung des Friedensimplementierungsrats – ein Treffen von wichtigen Botschaftern in Sarajevo – statt. Die Vertreter der USA und Großbritanniens drängen Schmidt seit Wochen dazu, eine Entscheidung im Sinne der HDZ zu fällen, weil sie glauben, dass damit der Landesteil Föderation besser funktionieren würde.

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Andere europäische Staaten sind dagegen, weil sie entweder gar nicht wollen, dass der Hohe Repräsentant seine Bonner Vollmachten nutzt; oder sie argumentieren, dass man mitten im Wahlkampf keine wahlentscheidenden Gesetze ändern dürfe, weil das den internationalen Standards widerspreche. Aus diplomatischen Kreisen ist zu hören, dass nun viel davon abhängt, welche Position Deutschland einnimmt – zumal Schmidt ein deutscher Politiker ist.

"Legitime Repräsentation"

Zuletzt hatte für Kritik gesorgt, dass sich Schmidt in Slowenien beim Forum in Bled mit dem kroatischen Premierminister Andrej Plenković getroffen hatte – zumal auch Kroatien großen Druck macht, dass das Wahlgesetz im Sinne der HDZ geändert wird, und sich zunehmend in die inneren Angelegenheiten von Bosnien-Herzegowina einmischt.

Die bosnisch-herzegowinische HDZ und ihr Chef Dragan Čović beziehen sich in der Causa immer wieder auf ein Urteil des bosnischen Verfassungsgerichts: das sogenannte Ljubić-Urteil. Sie behaupten, dass das "kroatische Volk" in Bosnien-Herzegowina diskriminiert sei, und fordern eine "legitime Repräsentation". Viele Diplomaten und ausländische Politiker folgen durch die gezielte Lobby-Arbeit dem Narrativ der HDZ, obwohl Rechtsexperten seit Jahren erklären, dass das Ljubić-Urteil längst umgesetzt ist und die "legitime Repräsentation" ein politischer Lobby-Begriff sei.

Keine Intervention notwendig

Die ehemalige Richterin am bosnischen Verfassungsgericht Constance Grewe, die im Jahr 2016 zum Zeitpunkt des Urteils an dem Gericht tätig war, bestätigt dem STANDARD, dass es keinerlei weiterer Veränderungen des Wahlgesetzes bedarf.

Angesprochen auf eine mögliche Entscheidung des Hohen Repräsentanten Schmidt in der Causa, obwohl rechtlich gar keine Notwendigkeit dazu besteht, stellt Grewe die Frage, ob der Hohe Repräsentant in der Causa möglicherweise schlecht beraten sei. Es seien nämlich keinerlei weitere Schritte erforderlich. Denn nur wenn ein Gesetzestext in der Folge einer Streichung einer Bestimmung keinen Sinn mehr mache, "muss der Gesetzgeber erneut intervenieren, um den Text zu ändern", so Grewe zum STANDARD. "Dies ist jedoch in der Rechtsache Ljubić nicht der Fall."

Kampagne der HDZ

Grewe moniert zudem, dass die internationalen Richter damals den politischen Hintergrund nicht kannten und nicht wussten, dass die HDZ später aus der Sache eine Kampagne machen würde. "Die Verknüpfung von Territorialität und Ethnizität hat jedenfalls fatale Folgen", sagt sie zum STANDARD. "Das müsste in Bosnien-Herzegowina mehr getrennt werden." Denn diese Idee von einer Verbindung von Territorialität und Ethnizität sei antagonistisch zu individuellen politischen bürgerlichen Rechten. "Man sollte dieser Ultranationalisierung Einhalt gebieten."

Bereits im Krieg versuchten nämlich radikale Nationalisten, eine eigene kroatische "Entität" zu errichten – genannt Herceg-Bosna – mit der Option, diese später an Kroatien anzugliedern, also Bosnien-Herzegowina zu zerstören.

Grewe spricht in dem Zusammenhang von einer "politischen Instrumentalisierung von Gerichtsentscheidungen" und verweist auf ein anderes Urteil des Verfassungsgerichts in Bosnien-Herzegowina aus dem Jahr 2015. Damals verbot das Verfassungsgericht die Abhaltung des Feiertags der Republika Srpska am 9. Jänner. Nationalistische Politiker nutzten dieses Urteil sogar, um ein Referendum abzuhalten und es damit nicht umzusetzen.

Entgegen der Entscheidung des EGMR

Josef Marko, Grazer Verfassungsrechtler und einer der besten Kenner der bosnischen Verfassung, verweist in einem Artikel für den "Verfassungsblog" darauf, dass in jenem Vorschlag von Schmidt zur Änderung der Verfassung des Landesteils Föderation und des Wahlgesetzes, der vor einigen Wochen geleakt wurde, "bedauert wird, dass die Behörden in Bosnien und Herzegowina es versäumt haben, die Entscheidung des Verfassungsgerichts im Fall Ljubić umzusetzen". Offenbar hat man im Amt des Hohen Repräsentanten nicht realisiert, dass der Fall längst abgeschlossen ist.

"Schon die Parlamentswahlen 2018 wurden auf der Grundlage des Ljubić-Urteils abgehalten", erklärt Marko, weil das Verfassungsgericht eben bereits am 5. Juli 2017 die widerrechtlichen Bestimmungen außer Kraft gesetzt hatte.

Marko verweist auch darauf, dass ein Teil des Vorschlags, der vor einigen Wochen von Schmidt gemacht wurde und dann nach Protesten der Bevölkerung nicht umgesetzt wurde, "sogar entgegen der Argumentation im Fall Sejdić und Finci" gewesen wäre, also des ersten Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), das die Beendigung der Diskriminierung von Juden und Roma zum Thema hatte. (Adelheid Wölfl, 1.9.2022)