"Leise, ganz leise sein", bittet Walter Pois, als wir uns auf dem Friedhof einem Brunnen mit Wasserbecken nähern. Warum? Um die Goldfische zu sehen, die sich drin tummeln und verstecken, wenn jemand kommt und Wasser holt. Damit sie nicht irrtümlich auf dem Grab landen – vor ihrer Zeit.

STANDARD: Wie wird man als katholischer Gärtner aus Niederösterreich Friedhofsverwalter des Evangelischen Friedhofs Matzleinsdorf in Wien?

Walter Pois will den Evangelischen Friedhof Matzleinsdorf zu einem "Lebensraum" machen. Mit originellen Ideen.
Foto: Regine Hendrich

Pois: Ich hab bei den Bundesgärten gelernt, war dann an einer Uni Dienststellenleiter einer Gärtnerei für die Forschung. Dann hab ich mich für diese Stelle beworben.

STANDARD: Das war vor 16 Jahren. Seit fünf Jahren werden hier aufgelassene Gräber mit Obst und Gemüse bepflanzt. Sie haben Bienenstöcke, eine Imkerin macht Honig, es gibt Insektenhotels und "Büchersteine": Urnennischen mit Büchern. Schräg für einen Friedhof. Ist die Konkurrenz in Wien mit seinen 55 Friedhöfen so groß?

Pois: Die 46 Friedhöfe der Stadt Wien haben halt andere Möglichkeiten und mehr Mittel als wir. Als wir registriert haben, dass immer mehr Gräber aufgelassen werden und Bestattungen in der Natur beliebter werden, weil junge Leute nicht so gern auf Friedhöfe gehen, mussten wir uns etwas überlegen. Wir wollten die leerwerdenden Flächen anderweitig nutzen und dachten, das könnte doch interessant sein für Leute, die keinen Garten und keinen Balkon haben – und die ein bissl garteln, sich erden wollen. Und die Büchersteine kommen super an. Die einen lassen Büchern sackweise da, die anderen nehmen sie mit oder sitzen auf den Bankerln und lesen hier.

STANDARD: Sie haben 8.600 Gräber, rund 1.500 sind aufgelassen, heimgefallen, wie das in Ihrer Branche heißt. 20 davon werden mit Obst und Gemüse bepflanzt, von Ihren Mitarbeitern sowie von Mieterinnen und Mietern, die sich das 75 Euro im Jahr kosten lassen. Zunächst kam das nicht so gut an?

Pois: 2017 haben wir begonnen, jeder Mitarbeiter konnte sich freie Flächen aussuchen – denn wir mussten ja zuerst schauen, wie die Leute reagieren. Am Anfang waren sie überwiegend kritisch: "Man kann doch nicht auf Gräbern Gemüse pflanzen, seid ihr verrückt geworden?", war die Reaktion. Aber ich komm vom Land, da redet man mit jedem und mit dem Reden hat sich die Skepsis gegeben. Bei uns grüßt Sie ja jeder Mitarbeiter, wenn Sie reinkommen. So sind wir ein Dorf in der Stadt geworden. Und ich will das Kulturerbe Friedhof erhalten, bei uns liegen ja auch viele einst weltberühmte Prominente, wie Adele Sandrock, Friedrich Hebbel, Ada Christen. Wir wollen auch die schönen alten Grabsteine von aufgelassenen Gräbern bewahren, eben mit den Bepflanzungen. Damit sind wir in Österreich einzigartig, wahrscheinlich sogar weltweit.

STANDARD: Wie viele Mitarbeiter beschäftigen Sie?

Pois: 25 in der Hauptsaison, davon sind elf Gärtner, die sich nur um die Gräber kümmern. Und die haben begonnen, Gemüse zu pflanzen. Vorwiegend Tomaten oder Pfefferoni, die man öfter ernten kann. So ein kleiner Snack für zwischendurch, den nascht man runter, wenn man die Gräber pflegt und es sehr heiß ist: Ist eine tolle Gschicht und motiviert das Personal.

Paradeiser, Pfefferoni, Blumen – all das kann man in Matzleinsdorf anbauen bzw. pflanzen.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Und wie viele gartelnde zahlende Kunden haben Sie?

Pois: Sieben oder acht, da sind Junge dabei und Eltern, die ihren Kindern die Natur näherbringen wollen.

STANDARD: Der Friedhof gehört der evangelischen Kirche. Machen Sie das alles auch, weil Sie gewinnorientiert arbeiten müssen?

Pois: Ja, wir bekommen keine Zuschüsse, müssen uns selbst erhalten und Gewinn erwirtschaften. Und das geht sich auch aus. Unsere Bilanzsumme betrug zuletzt rund 800.240 Euro, circa 700.000 Euro sind allein die Personalkosten in der Verwaltung, für die vier Totengräber und die Gärtner, die Saisonmitarbeiter sind. Die Einnahmen kommen von unserer Gärtnerei, dem Blumengeschäft, den Beerdigungen und der Vermietung unserer Pfarrkirche hier für Beerdigungen.

STANDARD: Finden Sie auch so schwer Personal?

Pois: Ja. Katastrophe. Wir suchen vor allem über das AMS und Aushänge.

STANDARD: Gibt es eigentlich auch Totengräberinnen?

Pois: Hätte ich noch nie gehört. Wir haben jetzt nach mehr als einem Jahr eine Kanzleikraft gefunden, suchen zwei Gärtnerinnen und einen Friedhofsarbeiter. Ist ein schöner Beruf: Obwohl draußen auf der Triester Straße der Verkehr tost, ist davon kaum was zu hören hier. Unser Friedhof: eine Oase.

STANDARD: Wie viel verdient ein Totengräber, eine Friedhofsarbeiterin?

Pois: Sie fallen in den Friedhofsgärtner-Kollektivvertrag: 1.990 Euro brutto im Monat.

STANDARD: Werden Sie weiter diversifizieren? In England und den USA kann man auf manchen Friedhöfen heiraten, am Zentralfriedhof laufen ...

Pois: ... ja, und der Zentralfriedhof hat eine Konditorei und bei der Feuerhalle ein kleines Gasthaus aufgemacht. Nachmachen kann man vieles. Ich versuche, etwas Neues zu machen. Wir stehen vor allem in Konkurrenz zu den öffentlichen Friedhöfen und mehr noch zu den Naturbestattungen draußen im Wienerwald oder in der Donau. Die Leute wollen einfach nichts mehr mit dem Friedhof zu tun haben und immer mehr nehmen die Urne auch mit heim…

STANDARD: Da gibt es aber strenge Regeln in Wien?

Pois: Ja, man braucht eine Bewilligung der MA 40 und der Haus- oder Wohnungseigentümer muss zustimmen. Aber oft kommen die Leute dann drauf: Urne daheim ist doch nicht so meins, ich möchte sie lieber wo beisetzen.

Auch Friedhöfe können sterben. Konkurrenz gibt es etwa durch Naturbestattungen im Wald.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Überall werden aber Gräber aufgelassen, fallen heim, wie das in der Sprache der Friedhofsordnungen heißt. Gibt es ein Friedhofssterben?

Pois: Wir merken, dass mehr Gräber aufgelassen als neu belegt werden. Deswegen suche ich ja neue Strategien. Wir errichten jetzt einen Naturbestattungshain, planen einen Bienenlehrpfad, in unseren abgestorbenen, aber abgesicherten Pensionsbäumen nisten zwei Arten von Fledermäusen, drei Arten von Spechten, bei uns gibt es Wander- und Turmfalken, spezielle Tauben, Füchse, Hamster, vom Aussterben bedrohte Holzbienen. Wir versuchen, der Natur unter die Arme zu greifen. Seit zwei Jahren haben wir auch Eichhörnchen.

STANDARD: Die sind aber nicht sehr ausgefallen ...

Pois: Aber neu bei uns, bisher fanden die keine Nahrung hier, dann haben wir neue Bäume gepflanzt und jetzt sind sie da, die Eichhörnchen. Wahrscheinlich sind sie vom Waldmüllerpark gekommen, der ist ja gleich ums Eck. Wir haben auch Maroni-, Oliven- und Feigenbäume auf dem Friedhof, wir wollen halt einen Ort schaffen, wo man sich auch in der Trauer wohlfühlt.

STANDARD: Es gibt aber auch strenge Regeln hier ...

Pois: Gemäß unserer Friedhofsordnung muss jedes Grab mit lebenden Pflanzen begrünt sein, Kies ist bei uns verboten, auch Rindenmulch, Kunstrasen und Kunstblumen sind untersagt. Früher musste man sogar eine Wasserkarte kaufen, damit man gießen darf.

Lesen auf dem Friedhof – auch das ist nachgefragt.
Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Apropos Kies. Geht’s bei Ihren Attraktionen um die Stimmung oder um die Einnahmen?

Pois: Es geht immer ums Geld, auch auf dem Friedhof, anders funktioniert die Welt nicht. Klar, wenn wir jetzt viele Gräber vermieten, bringt das Geld, das wir für den Erhalt des Friedhofs brauchen, da steht ja auch viel unter Denkmalschutz. Und wenn einmal mehr Gewinn bleibt, bilden wir Rücklagen oder es wird ein Teil des Geldes an die evangelischen Gemeinden ausgeschüttet, denen das Grundstück hier gehört.

STANDARD: Werden Sie dereinst hier begraben sein?

Pois: Das hab ich mir noch gar nicht überlegt. Wahrscheinlich nicht, eher bei mir daheim im Weinviertel.

STANDARD: Wein wächst hier auf dem Friedhof aber keiner?

Pois: Nein. Noch nicht.
(Renate Graber, 4.9.2022)