Wolfgang Anzengruber betreibt seit seiner Pensionierung als Verbund-General vor knapp zwei Jahren mit viel Energie das, was ihm wichtig ist im Leben: Bewusstsein für die Transformation hin zu echter Nachhaltigkeit und eine Umstellung auf qualitatives Wachstum zu schaffen, Generationen an einen Gestaltungstisch zu bringen und "vom Reden ins Tun" zu kommen, wie er sagt. Das macht er mit der Plattform CEOs for Future, im Nachhaltigkeitsbeirat der Bundesimmobiliengesellschaft, im Nachhaltigkeitsgremium Respact und in einer Reihe weiterer Funktionen – jüngst auch als Berater des Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in Energiefragen. Stets das zentrale Anliegen dabei: Widersprüche zulassen, Klartext reden und handeln.

STANDARD: Haben Sie jetzt mehr Zeit als im CEO-Sessel des Verbund-Konzerns?

Anzengruber: Eigentlich nicht. Aber ich kann mehr Dinge mit echter Freude tun.

STANDARD: Bei einem Treffen mit Vertreterinnen der Fridays for Future fragten Sie, was die Jungen genau von Ihnen und Ihrer Generation erwarten. Was war die Antwort?

Anzengruber: Dass wir uns in Klimafragen an das halten, was wir unterschrieben haben.

STANDARD: Ein sachliches und berechtigtes Verlangen, gleichzeitig ein berechtigter Vorwurf ...

Anzengruber: Definitiv.

Bewusstsein für eine Änderung des Lebensstils schaffen, dabei aber "gnädig" mit uns und anderen sein, statt "Purismus" zu verlangen, wünscht sich Wolfgang Anzengruber.
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STANDARD: Was will, was kann die Plattform CEOs for Future, in der sich rund 60 Spitzenmanagerinnen und Eigentümer versammeln?

Anzengruber: Erstens: keine schönen Beteuerungen verbreiten, sondern als Plattform der Willigen ins Tun kommen. Jede Branche, jedes Unternehmen kann Wege in die Nachhaltigkeit gehen. Zweitens: Wir wollen einen echten Generationendialog führen, statt Statements und Vorurteile auszutauschen, so kommen wir ja nicht weiter. Ein wissenschaftlicher Beirat begleitet uns – es sind ja viele Halbwahrheiten im Umlauf. Wichtig ist mir: Wir sind keine Partei.

STANDARD: Vielleicht wollen Sie eine werden? Vielleicht eine neue Partei der grünen Wirtschaftsmächtigen?

Anzengruber: Nein! Wir sind auch keine Vorfeldorganisation.

STANDARD: Bleiben wir bei der Politik und den Multi-Herausforderungen, wenn nicht Multi-Krisen: Ein Aussitzen und Hoffen, dass es wieder gut, wieder wie früher wird, scheint da zumindest mitzuregieren, oder?

Anzengruber: Ich würde es Beharren nennen. Wenn wir weiter so beharren, wird es eine Erosion der Strukturen geben, etwa der energieintensiven Industriestrukturen. Klimaflucht wird ein Riesenthema werden – sehr viele Menschen ohne Nahrung, ohne Arbeit. Wenn wir das nicht als Chance begreifen, werden wir es nicht hinbringen. Jetzt haben wir eine hochgiftige Mischung aus einem großen Klimaproblem, steigender Inflation, steigenden Geldkosten und noch Arbeitskräftemangel. Wir konzentrieren uns nur auf den kommenden Winter – und was genau tun wir dann im März? Da stehen wir dann wieder am Anfang, oder wie? Das alles, diese toxische Mischung, wird nicht von selber morgen wieder gut. Es wird morgen auch nie mehr so werden, wie es gestern war.

STANDARD: Das heißt: was genau tun?

Anzengruber: Den Stein der Weisen gibt es nicht. Zunächst müssen wir den Leuten beibringen, in welcher Situation wir sind. Es ist viel mehr zumutbar, als die Regierung sagt. Es wird ja nur erklärt, dass eigentlich eh alles okay ist und für die Menschen gesorgt wird. Jetzt wäre es wichtig, dass die Politik Symbole findet für ein neues Bewusstsein.

STANDARD: Symbolpolitik?

Anzengruber: Das meine ich nicht, sondern Wegsteine der notwendigen Veränderung. Zum Beispiel die Höchstgeschwindigkeit beschränken. Oder Werbeverbote für großvolumige Autos verfügen. Bei Zigaretten haben wir das ja auch gemacht. Alle müssen ein Bewusstsein für unsere Situation kriegen. Also, Gastgärten im Winter sind einfach nur skurril. Die Leute machen Urlaub mit Vorgriff auf das Weihnachtsgeld – es fehlt die Perspektive. Es geht jetzt um echte Lebensstiländerung, das muss klargemacht werden. Das betrifft uns alle. Aber es geht nicht um Purismus oder Flagellantentum.

STANDARD: Da kommt gleich das böse Wort Verzicht ins Spiel ...

Anzengruber: Es wird gesagt, dass wir ärmer werden. Ja, das heißt aber nicht unbedingt, dass wir auch Lebensqualität verlieren. Es fehlen schlicht die Ziele. Nur den nächsten Winter zu überstehen, das kann doch nicht das Ziel sein. Wir haben keine Ziele, wir brauchen aber ganz dringend welche. Statt Generationen gegeneinander auszuspielen, brauchen wir doch jetzt dringend die Jugend als Verbündete und Gestalter, nur nicht Populisten mit einfachen Lösungen. Die Jugend hat auch keine Patentrezepte, die gibt es ja nicht. Aber die jungen Generationen bringen zum Ausdruck, wie groß ihr Unbehagen ist. Das muss auf den Tisch.

STANDARD: Trauen Sie dem derzeitigen politischen Personal solche Zielsetzungen noch zu?

Anzengruber: Das würde ich gerne. Ich fürchte allerdings, wir werden einen Umweg über den Populismus gehen. Ich hoffe, dass der nicht zu lang und zu groß wird.

STANDARD: Was wäre denn die Ausgangsbasis für einen solchen Generationendialog zur Zielfindung als Gesellschaft, als Kontinent?

Anzengruber: Wir müssen sagen, was wir haben: gescheite Leute, noch guten Wohlstand. Wir sind in Europa rohstoffarm und haben gelernt, damit umzugehen. Wir müssen jetzt in Zusammenhängen und Konsequenzen denken, nicht alleine in unzähligen Details.

STANDARD: Schaffen wir’s?

Anzengruber: Ja! Es wird wehtun. Vielleicht den Alten mehr als den Jungen, die haben nicht diese Vergleichsbasis. Wir lernen offenbar extrem langsam, aber den Jungen ist sowieso klar: Ohne Unterstützung können sie den Lebensstandard nicht halten. Und diese Erbengeneration ist aber die letzte, dann ist nichts mehr zum Vererben da. Da brauchen wir nicht kontaminierte Begriffe wie Verzicht. Die Jungen gestalten sich schon ihre Zukunft. Damit das gelingen kann, müssen wir Widersprüche zulassen, zuhören, kontaminierte Begriffe aus dem Dialog nehmen und dem Reden Taten folgen lassen.

STANDARD: Frage an den Energieberater des amtierenden Bundespräsidenten – nicht zur Wien Energie, sondern: Sollen die Übergewinne der extrem profitierenden Energieriesen abgeschöpft werden?

Anzengruber: Die aktuelle Situation beim Strom wird teilweise auch ausgenutzt. Marktwirtschaftliche Angebotsstrukturen im Strommarkt zu zerstören und durch Planwirtschaft zu ersetzen ist natürlich gefährlich. Aber wenn Fehler im Markt sind, und die sind offenbar durch das Merit-Order und seine Orientierung am höchsten Gaspreis entstanden, dann gehören sie vorübergehend korrigiert, bis das reformiert ist. Für einen Strompreisdeckel wäre mein bevorzugtes Modell: eintausend Kilowattstunden pro Kopf, vom Säugling bis zum Greis, gestützt. Alles darüber hinaus zu Marktpreisen. (Karin Bauer, 3.9.2022)