Landestheater Niederösterreich: Laura Laufenberg, Tim Breyvogel und Julia Kreusch in Paulus Hochgatterers Dramatisierung von Elias Canettis "Die Blendung", Regie Nikolaus Habjan.
Foto: Johannes Hammel

Im Herbst blühen die Bühnen

Gleich ist sie da, die goldene Zeit, wenn zwar die Blätter zu fallen beginnen, dafür aber auch die Hitzewellen abebben. Dieser Sommer war ja nicht nur in Österreichs schönem Osten eine zu trockene G’schicht.

Der Herbst bringt hoffentlich ausreichend Regen, ganz sicher aber schenkt er uns eine frische Spielsaison, in der sich neben zahlreichem niederösterreichischem Publikum auch viele Wienerinnen und Wiener zu St. Pöltens Spielorten aufmachen werden.

Denn diese haben wieder ein echt hauptstädtisches Programm mit Werken parat, wie man sie zwanzig Zugminuten weiter östlich vom schönen St. Pöltner Hauptbahnhof bisweilen schmerzlich vermisst.

Ein Tanz- und Premierenreigen

Große internationale Tanzproduktionen locken ins Festspielhaus. Seine neue Intendantin Bettina Masuch – im Interview auf Seite S 5 – bringt gleich zum Auftakt ein neues Stück des belgischen Choreografie-Stars Sidi Larbi Cherkaoui: Vlaemsch (chez moi), zu Deutsch "Flämisch (zu Hause)". Und im Landestheater Niederösterreich nimmt Marie Rötzer, wie sie auf Seite S 2 dieses Spezials erläutert, als Leiterin des Hauses eine Haltung ein, die Nachhaltigkeit nicht scheut.

Die Kompanie Tanzmainz zeigt Sharon Eyals "Soul Chain" im Festspielhaus.
Foto: Andreas Etter

Dazu passen Premieren wie Schnitzlers Reigen in der Regie von Franz-Xaver Mayr oder Canettis Die Blendung, dramatisiert von Paulus Hochgatterer (Regie: Nikolaus Habjan), ebenso wie eine Lesungsreihe über den Ukraine-Krieg, ein Format mit dem Titel "Transformationsbüro" – Ilija Trojanow, Henrik Ibsen, Paul B. Preciado und einige mehr – sowie Theater speziell für junges Publikum.

Im Festspielhaus gibt es traditionell auch große Musik, diesmal zum Beispiel vom Tonkünstler-Orchester zu Anne Teresa De Keersmaekers Stück Mozart / Concert Arias mit dem Opera Ballet Vlaanderen aus Brüssel.

Und dann natürlich in den Konzertveranstaltungen wie Haydns Die Jahreszeiten mit den Tonkünstlern (die unter anderem auch mit Camané Fado de Lisboa spielen) und dem Konzertchor Niederösterreich. Oder Mnozil Brass, Manu Delago sowie Lucie Horsch mit Max Volbers.

Courage zeigen am Flüsterzweieck

Die volle Größe der Kleinkunst, hinreißender Sound und etliches, das als "jung & saugut" gilt, zeigen sich auch diese Saison wieder in der Bühne im Hof. Funkig feiert der Hot Pants Road Club gleich zu Beginn seinen Dreißiger, Ulrike Haidacher und Antonia Stabinger kabarettieren ein Flüsterzweieck, Katharina Straßer zeigt Keine Angst!, zwei Florians, Klenk und Scheuba, ziehen über die politische Wirklichkeit her, und Heinz Marecek laust der eine oder andere Affe.

In der Bühne im Hof hat Katharina Straßer vorbildlich "Keine Angst!".
Foto: Ingo Pertramer

Keine Meierei macht ein Verein, wenn er das Format der Freunde der Kultur St. Pölten besitzt. In diesem Standard-Spezial über die wichtigsten Spielorte der niederösterreichischen Hauptstadt ist auch nachzulesen, was diese Freunde tun und warum sie für das Kulturleben sehr viel bedeuten.

Damit kommen wir noch einmal in die Bühne im Hof und dort zu dem Leipziger Musiker, Solokünstler und Aktivisten Sebastian Krumbiegel, der von sich sagt: "Ich bin ein Grundgesetz-Ultra!"

Im November gibt der Popstar und Sänger der Band Die Prinzen eine musikalische Lesung mit dem Titel Courage zeigen. Das könnte ja ein Motto für die kommende Zeit sein!

Über all das und viel mehr ist auf den folgenden Seiten zu lesen – gute Aussichten auf eine anregende Spielzeit in St. Pölten. (Helmut Ploebst, 2.9.2022)

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Marie Rötzer ist seit der Spielzeit 2016/17 künstlerische Leiterin des Landestheaters Niederösterreich.
Foto: Alexi Pelekanos

Landestheater-Intendantin Marie Rötzer: "Das Vergessen setzt immer schnell ein"

Im Gespräch über die neue Spielzeit ihres Hauses und damit über den gesellschaftlichen, ideellen und ökologischen Wandel im Theaterbetrieb.

Erleichtert klingt Marie Rötzer kurz nach gut überstandener Reigen -Premiere bei den Salzkammergut-Festwochen Gmunden. Diese Koproduktion wird ab September auch im Landestheater Niederösterreich zu sehen sein.

Auch sonst hat sich die künstlerische Leiterin des Hauses viel für die neue Saison vorgenommen.

Ihr innigster Wunsch? Wieder "einen regulären Theaterbetrieb hinbekommen und dass wir inhaltliche Pläne verwirklichen können".

Hier spricht Rötzer auch von globaler Sicherheit und Nachhaltigkeit als großem Ziel, und sie erläutert die neue Spielzeit ihres Theaters.

STANDARD: Wie kann ein Theater dazu beitragen, die Welt besser zu machen?

Rötzer: Indem wir auf die Materialien achten, die wir verwenden, und auf einen sensiblen Umgang mit Strom. Wir führen zum Beispiel ein papierloses Büro. Ziel ist es, alles, was geht, zu ermöglichen, aber die künstlerische Freiheit zu wahren. Und wir können vor allem ideell etwas für eine Verbesserung unserer Gesellschaft leisten.

STANDARD: Gibt es dabei auch einen Genderaspekt?

Rötzer: Für unsere technischen Abteilungen arbeiten überdurchschnittlich viele Frauen. Auch in der Leitung sind wir ein "female government". Der Theaterbetrieb soll als Spiegel der Gesellschaft so divers wie möglich sein. Das ist uns auch im Spielplan ein Anliegen. Und es gibt eine inhaltliche Schwerpunktsetzung zum Thema Wandel.

STANDARD: Zum Beispiel das sogenannte Transformationsbüro?

Rötzer: Ja. Ein Format, das unterschiedliche Veranstaltungen beinhaltet. Etwa die Gesprächsreihe "Der utopische Raum" mit dem Schriftsteller Ilija Trojanow. Er beschäftigt sich bereits seit vielen Jahren mit Utopien und ist der Meinung, man sollte viel mehr darüber sprechen, wie eine Welt sein könnte. Oder der Essay Ein Apartment auf dem Uranus des spanischen Philosophen Paul B. Preciado, der sich mit Transformationsprozessen auseinandersetzt. Hier geht es um eine Umwandlung zum Mann und wie über den eigenen Wandel auch der gesellschaftliche erlebt wird. Tim Breyvogel hat den Monolog erarbeitet. Es war auch seine Idee. Gemeinsam mit der FH St. Pölten im Studiengang Digital Design entstand außerdem ein Pionierbühnenbild aus virtuellen Welten. Hier trifft Technik auf Kunst.

STANDARD: Was ist das Vermittlungsformat "Reparatur oder Revolution"?

Rötzer: Das ist ein Projekt, das mit Laien erarbeitet wird. Es wichtig, auch junge Menschen zu begeistern. Und es geht darum, dass wir nicht alles wegwerfen müssen, sondern auch reparieren können im Sinne der Nachhaltigkeit, aber auch um eine "Reparatur der Seele". Nach Corona haben gerade viele Jugendliche eine Weltsicht, die nicht so rosig ist. Es sind Zukunftsängste entstanden. Spielerisch versuchen wir, diese nicht auszublenden, sondern ganz gezielt damit umzugehen und sie anzusprechen.

STANDARD: Warum wurde die Inszenierung von "Ein Volksfeind" im Rahmen des Transformationsbüros ins Programm genommen?

Rötzer: Weil es bestürzend aktuell ist. In Ibsens Stück Ende des 19. Jahrhunderts geht es um einen Arzt, der in einem Heilwasser Bakterien findet. Er informiert die Presse, die anfangs den Skandal aufdecken möchte. Doch dann stehen gesundheitliche gegen wirtschaftliche Interessen. Das ist durch Corona eine sehr aktuelle Situation. In Tirol war es ein sehr brisantes Thema, inwieweit Gesundheit wichtiger ist als Tourismus.

STANDARD: Aktuell ist auch das Format "I want to go home – Was geschah am 24. Februar 2022" angelegt.

Rötzer: Es ist mir ein großes Anliegen, dass wir uns auch zum Krieg verhalten. In der Ukraine sollte das Theater der Dramatiker:innen kurz vor Kriegsausbruch eröffnet werden. Dazu kam es nicht. Zehn Autor:innen wurden gefragt, ob sie stattdessen Texte zum Kriegsausbruch schreiben wollten. Und die sind sehr poetisch, berührend, teilweise sehr konkret geworden.

STANDARD: Konnten Sie auch persönliche Kontakte knüpfen?

Rötzer: Ich habe in Wien Natalia Vorozhbyt getroffen, eine sehr bekannte ukrainische Autorin, die flüchten musste und die ich schon aus Hamburg kannte. Sie hat mir die Geschichte erzählt. Wenn sich in der Ukraine eine Tür schließt, dann können wir in Niederösterreich eine Tür öffnen. Es sind auch schon andernorts einige Abende mit diesen Autor:innen gestaltet worden. Aber es ist sehr wichtig, dass die szenische Lesung im September herauskommt und das Projekt nicht schon im vergangenen Frühjahr abgehakt wurde. Das Vergessen setzt immer sehr schnell ein. (Katharina Stöger, 2.9.2022)

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Boris Popovic und Florian Carove in Nestroys "Talisman".
Foto: Alexi Pelekanos

Ein Titus, der alle blendet

Die zentralen Landestheater-Produktionen: ein "Reigen" für heute, "Der Talisman" mit starker Salome, Elias Canettis "Die Blendung" und "Drei Schwestern" mit Parallelen zur Gegenwart.

Diesen Reigen kann sich auch die Generation Wokeness anschauen, ohne ihn gleich canceln zu wollen" – so das Urteil des Standard über die Premiere jener Reigen-Neufassung des Landestheaters Niederösterreich, die bereits im Juli bei den Salzkammergut-Festwochen im Stadttheater Gmunden zu sehen war und ab 17. September in St. Pölten gezeigt wird.

Arthur Schnitzlers einst skandalträchtig gewesenes Fin-de-Siècle-Stück über Sex, Liebe (oder so), Geld und Konvention(en) wird aktuell wieder heftig auf seine Aktualität hin abgeklopft.

So luden etwa neben der in Koproduktion von Landestheater Niederösterreich und den Salzkammergut-Festwochen entstandenen Inszenierung des 1986 in Hallein geborenen Regisseurs Franz-Xaver Mayr die Salzburger Festspiele in diesem Jahr gleich zehn zeitgenössische Autorinnen und Autoren ein, die zehn Szenen des Schnitzler’schen Dramas zu überschreiben.

Im Landestheater Niederösterreich wagt Mayr einen heutigen, aufgeklärten und genderbewussten Blick auf die Angelegenheit. Und hat dabei die grundsätzlich großartige Burgschauspielerin Dorothee Hartinger auf seiner Seite. Ihr Gastspiel an der Bühne Baden gibt die Produktion am 4. und 5. Oktober.

Feines Feilen an Nestroy

Bereits Premiere feierte Johann Nestroys Der Talisman in der Regie von Alexander Pschill und Kaja Dymnicki, die dem Theaterpublikum bekannt sind, weil sie die Wiener Bühne Bronski & Grünberg mitgegründet haben. Als Chiffre für die Ausgestoßenen und Ungeliebten, die fast jede Gesellschaft zu brauchen scheint, um sich ihrer selbst zu versichern, dienen in Nestroys Posse aus dem Jahr 1840 rothaarige Menschen. Von denen wird einer, Barbiergeselle Titus Feuerfuchs, dank schwarzhaariger Perücke plötzlich zum Liebling aller Frauen.

Auch hier wird Fortschritten nicht zuletzt in Bezug auf Geschlechterrollen, wie sie seit der Zeit Nestroys erreicht wurden, Rechnung getragen. "Wir wollten die Position der Salome ausbauen, die zwar immer als starke Figur beschrieben wird, aber bei allem Respekt für den Autor doch sehr devot charakterisiert ist", erzählt Regisseur Alexander Pschill in einem Interview. "Es war uns ein Anliegen, der Salome noch mehr Bedeutung und Selbstbewusstsein einzuräumen. Eine andere Veränderung ist, dass Titus nicht nur Frauen an der Nase herumführt. Nicht allein sie fallen auf ihn herein, sondern die Menschen generell."

Regie bei "Talisman": Alexander Pschill und Kaja Dymnicki – und Julia Kreusch mit Mikis Kastrinidis in "Schwarzes Meer", einer Inszenierung von Frank Castorf.
Foto: Alexi Pelekanos

Natürlich hat die Produktion auch eigene Couplets auf Lager, für die Musik zuständig ist Stefan Lasko. Das Ergebnis ist wieder ab 7. Oktober zu sehen, außerdem ist die Produktion die heurige Silvesterpremiere des Landestheaters und wird am 31. Dezember gleich zweimal gespielt.

Weiter geht es ab 15. Oktober mit Elias Canettis einzigem Roman Die Blendung, einem wuchtigen, selten gelesenen Teil des klassischen österreichischen Literaturkanons über die Infiltration zwischenmenschlicher Beziehungen durch Kapitalismus und aufkommenden Nationalsozialismus, für den der Autor Jahrzehnte später den Nobelpreis bekam.

Wir begegnen hier einem Menschen, dem 25.000 Bücher die ganze Welt sind: dem "größten lebenden Sinologen" Peter Kien, bei dem Lesen nicht eben die Empathie befördert, sondern eher das Gegenteil.

Fantasien der Schwestern

Dass seine frisch Angetraute, die Haushälterin Therese, bei einem missglückten Verführungsversuch einen Bücherstapel vom Schlafdiwan stößt, bringt mehr als nur ein paar Buchstaben ins Wanken. Die Dramatisierung besorgte Paulus Hochgatterer, für die Inszenierung mit Schauspielern, Schauspielerinnen und Puppen zeichnet Nikolaus Habjan verantwortlich. Am 22. und 23. November ist die Inszenierung zu Gast an der Bühne Baden.

Tschechows Drei Schwestern sehnen sich zurück in ihre ferne Geburtsstadt Moskau: die Lehrerin Olga, nach heutiger Definition vermutlich im Burnout gelandet, die unglücklich verheiratete Mascha und das von Selbstverwirklichung träumende Nesthäkchen Irina.

Während Bruder Andrej mit dem ereignislosen Leben in der Provinz ganz zufrieden zu sein scheint, leben die Schwestern mehr in ihren Fantasien von einer verheißungsvollen urbanen Zukunft als in der realen, aber faden Gegenwart.

Die Ungarin Kriszta Székely, Hausregisseurin am Budapester Theater Katona József, befragt das Stück mit ihrer ersten Inszenierung im deutschsprachigen Raum auf seine Parallelen zur Gegenwart: Inwieweit sind wir, erneut unfreiwillige Zeuginnen einer epochalen Zeitenwende, überhaupt in der Lage, auf gesamtgesellschaftliche Herausforderungen (von denen es bekanntlich ein paar gibt) zu reagieren, diese vielleicht sogar zu beeinflussen und Veränderungen herbeizuführen?

Zu sehen ist die Inszenierung "Talisman" ab 2. Dezember, zu Gast an der Bühne Baden wird sie am 31. Jänner sowie am 1. Februar sein. (Andrea Heinz, 2.9.2022)

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Mia Constantine zeigt ihr Faible für "Frederick die Maus".
Foto: Alexander Schuktuew

Heidi und Frederick mit "Schachnovelle"

Das Kinder- und Jugendprogramm im Landestheater Niederösterreich

St. Pölten – In der neuen Spielzeit hat sich das Landestheater der Adaption von Jugendliteratur-Klassikern verschrieben: Mit Frederick die Maus startet am 23. September die Saison für den Nachwuchs.

Die Geschichte um die Maus, die Sonnenstrahlen, Wörter und Farben für den Winter sammelt, wird von Mia Constantine inszeniert und kann im Rahmen des Theaterfest-Programms am 10. September schon etwas früher beschnuppert werden.

Ab 12. November holt Regisseurin Aslı KışlalHeidi für Kinder ab sechs Jahren auf die Bühne. Die Geschichte um das Waisenmädchen auf der Almhütte, das ihre Mitmenschen durch ihre lebensfreudige Art erheitert und verändert, begeisterte Generationen. Für das Publikum ab zwölf Jahren wird ab 25. Jänner Parzival von Stephanie van Batum als moderne Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die sich mit Fragen der eigenen Identität im Gegensatz zur Heldenidee auseinandersetzt.

Außerdem wird in dieser Spielzeit ab 4. November das Repertoire des Klassenzimmertheaters erweitert: um Stefan ZweigsSchachnovelle in der Inszenierung von Mechthild Harnischmacher. Zweigs Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich wird besonders für jugendliches Publikum ab 14 Jahren empfohlen.

Jungen Erwachsenen, die gerne Theater spielen, steht außerdem der Theaterclub offen – diesmal unter dem Thema "Reparatur". (Laura Kisser, 2.9.2022)

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Die Groupe Acrobatique de Tanger unter Circografin Maroussia Diaz Verbèk probt ihr Programm "Fiq!".
Foto: Hassan Haijaj

Wir sind, was wir tanzen lassen

Choreografie und Circus im Festspielhaus mit Sidi Larbi Cherkaoui, Sharon Eyal, Saïdo Lehlouh, Oona Doherty, der Groupe Acrobatique de Tanger und Anne Teresa De Keersmaeker.

Auf der Höhe der Zeit zu sein ist nicht schwer für eine Institution wie das Festspielhaus St. Pölten. Zumindest, wenn sie eine Intendanz mit feinem Sensorium für die Gegenwart, kulturpolitischem Rückhalt und reichlich Publikum hat. Bereits unter Brigitte Fürle nahm das Haus große Arbeiten aus Tanz und Musik ins Programm, wie sie während der Spielsaison auch im nahen Wien selten zu sehen sind.

Ab Herbst stellt nun mit Bettina Masuch wieder eine exzellente Kennerin heutiger Strömungen der performativen Künste ihr Programm vor. Sie war als Dramaturgin, Kuratorin und Intendantin beim Aufbruch des europäischen postmodernen Tanzes ab Beginn der 1990er-Jahre ganz vorn mit dabei.

Genau das spiegelt sich in ihrem Einstandsprogramm ab 7. Oktober wider. Im Bereich Tanz und Circus gastieren bis zum Jahreswechsel der Starchoreograf Sidi Larbi Cherkaoui, die Israelin Sharon Eyal mit der deutschen Kompanie Tanzmainz, der franko-algerische Hip-Hopper Saïdo Lehlouh, die Aufsteigerin Oona Doherty aus Belfast, die führende Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker und die poppige Groupe Acrobatique de Tanger.

Liebesstück mit Geschichte

Diese Zusammenstellung ist eine Reaktion auf unsere Gegenwart mit Blick über den Tellerrand von Nachrichtenthemen wie Krieg und Klimakrise hinaus. Bereits die Auftakt-Produktion Vlaemsch (chez moi) von Sidi Larbi Cherkaoui greift ein grundsätzliches Thema auf: Was kann in einer Periode der Vielfalt das "Eigene" für ein Land und darin einer Region sein?

Die Rückkehr zu alten Nationalismen ist, wie im Jugoslawienkrieg oder bei Russlands Überfall auf die Ukraine, die destruktivste Antwort auf diese Frage. Cherkaoui, der Belgier mit marokkanischen Wurzeln, setzt dem einen hellsichtigeren Ansatz entgegen, indem er die weiteren und tieferen Dimensionen des "Eigenen" ausleuchtet.

Etwa in der Zusammenarbeit mit dem Lautenspieler Floris De Rycker und seinem Musikensemble Ratas del Viejo Mundo (dt.: Ratten der alten Welt): Sie stellen heraus, wie entscheidend die arabische Musik für die polyfone mittelalterliche Klangwelt war.

Weiters durch die Beteiligung des bildenden Künstlers Hans Op de Beeck, des Modedesigners Jan-Jan Van Essche und von 14 Tänzerinnen und Tänzern ganz unterschiedlicher Herkunft. Ihnen allen geht es um die Verbindung der Gegenwart mit ihrer – spezifisch flämischen – Geschichte.

Die Kompanie Eastman unter Sidi Larbi Cherkaoui sucht die Rahmen der flämischen Geschichte.
Foto: Filip Van Roe

Zusammenführen, das Gemeinsame finden und Unterschiede schätzen – das ist deswegen radikal, weil es Weitblick, Tiefgang und demokratisches Verständnis einfordert. Wie etwa bei dem hochemotionalen Liebesstück Soul Chain von Sharon Eyal, das auch die Überwindung des NS-Grauens symbolisiert, zu dem Israel und Europas jüdische Gemeinden unschätzbar viel beigetragen haben. Die Versöhnung zwischen Opfern und Tätern gehört mittlerweile zur Geschichte Europas ebenso wie der Kampf gegen Antisemitismus, auch wenn dieser heute aus verschiedenen Richtungen torpediert wird.

In der bei jedem näheren Blick faszinierender werdende Reichhaltigkeit der europäischen Kulturen hat sich auch der Hip-Hop einen Platz erobert, wie Saïdo Lehlouhs Wild Cat zeigt: Urbaner Tanz ist ein global aufscheinendes Phänomen, wird aber immer wieder anders beleuchtet: hier aus der Perspektive der Pariser B-Boying-Szene.

Identität und Austausch

Masuch zeigt also die konstruktiven, spannenden Seiten des "Eigenen" im europäischen Selbstverständnis. Dazu gehört auch Oona Dohertys Navy Blue . In diesem brandneuen Tanzstück werden der Druck auf unsere liberalen Gesellschaften, innere Spannungen und reale Verunsicherung spürbar.

Dazu kommt ein Backlash: Weltweit finanzierten westliche Staaten jene Kunst, die ihren ästhetischen Konjunkturen entsprachen, und missbrauchten sie oft zur Erweiterung des wirtschaftlichen und politischen Einflussbereichs. Dass sich daraus Demütigungen ergaben, wurde verdrängt. Die Folge: wachsende Opposition gegen die westliche Verwertung aller Kulturgüter.

Europa reagiert darauf weitgehend konstruktiv. In Fiq! (dt.: Wach auf!) demonstriert die marokkanische Groupe Acrobatique de Tanger unter der Circografin Maroussia Diaz Verbèke, dass die Menge an Möglichkeiten im Austausch zwischen den Kulturen nicht nur Plünderung sein muss, sondern ebenso gut identitätsstiftend sein kann.

Wie das für Europäerinnen und Europäer auch ihre "eigenen" Kunstwelten sein könne, zeigt Anne Teresa De Keersmaeker in ihrem 1992 entstandenen Tanzstück Mozart / Concert Arias. Man muss das "Eigene" nur neu betrachten und verstehen lernen. (Helmut Ploebst, 2.9.2022)

Vlaemsch (chez moi), 7. 10., 19.30; Soul Chain, 15. 10., 19.30; Wild Cat, 29. 10, 19.30; Navy Blue, 11. 11., 19.30; Fiq!, 19. 11., 19.30 + 20. 11., 16.00; Mozart / Concert Arias, 2. + 3. 12., 19.30

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Bettina Masuch ist ab Herbst 2022 künstlerische Leiterin des Festspielhauses St. Pölten.
Foto: Florian Schulte

Intendantin Bettina Masuch: "Sich auch einmal gut fühlen dürfen"

Zu ihrem Einstandsprogramm am Festspielhauses St. Pölten und über ihre Intention, Frauen zu ermutigen, "sich die großen Räume zu erobern".

Seit 2014 leitete Bettina Masuch das Tanzhaus NRW, im kommenden Herbst nimmt sie für vorerst vier Spielzeiten ihre Arbeit als künstlerische Leiterin am Festspielhaus St. Pölten auf. Das zentrale Motiv ihrer ersten Saison entspricht den Bedürfnissen unserer Zeit: Umarmungen.

STANDARD: Das Thema der Umarmung spielt vermutlich auf die Pandemie an.

Masuch: Meine Ernennung zur künstlerischen Leiterin und die ersten Vorbereitungsgespräche fielen in die Zeit der extremen Lockdowns. Wenn man einen neuen Ort vorbereitet, reist man normalerweise viel, sieht viele Proben, spricht mit Menschen – das alles nur virtuell tun zu können macht natürlich etwas mit einer. Bis ich angefangen habe zu programmieren, konnte ich keine Vorstellung, kein Konzert im Festspielhaus sehen.

STANDARD: Was war das größte Problem?

Masuch: Die große Frage war für mich: Kommt das Publikum zurück in eine so virenbelastete Umgebung, in eine Tanzvorstellung oder ins Konzert? Bei dem Spielzeitmotiv geht es um Berührung. Für die Tänzerinnen und Tänzer natürlich in einem ganz konkreten Sinn. Und für mich als Besucherin geht es um Erlebnisse, Erfahrungen – Berührungen im übertragenen Sinn.

STANDARD: Das Festspielhaus ist ein Mehrspartenhaus – bezieht sich das Motto "Umarmungen" auch auf diesen Aspekt?

Masuch: Was das Haus für mich so interessant macht, ist die Möglichkeit, mit einem Residenz-Orchester arbeiten zu können und nicht nur mit Musik aus der Konserve. Meine Vision ist, die zwei Kunstformen Tanz und Musik wieder etwas näher zueinanderzubringen – was besonders im zeitgenössischen Tanz meistens an den fehlenden Räumlichen oder finanziellen Möglichkeiten scheitert. Gerade in der jüngeren Generation von Choreografinnen und Choreografen, die zunehmend angefangen hat, auch wieder mit klassischer Musik zu arbeiten, sehe ich da viel Potenzial.

STANDARD: Ist das auch eine Möglichkeit, um aus dem Krisenmodus herauszukommen, in dem sich sowohl die Gesellschaft als auch die darstellenden Künste – Stichwort Publikumsschwund – derzeit befinden?

Masuch: In der aktuellen Situation, in der die Krisen sich wie tektonische Platten übereinanderstapeln, fragt man sich natürlich: Was kann Kunst im besten Falle leisten? Was man ernst nehmen muss, ist das Bedürfnis der Menschen nach einem Ruhepunkt, einem Ort der Selbstversicherung, der Entspannung und des Genusses. Sich ohne schlechtes Gewissen auch mal gut fühlen, einen schönen Abend haben dürfen. Auch darauf bezieht sich die "Umarmung". Mein großes Anliegen ist es, den Menschen eine Oase zu geben. Ich bin jedenfalls überzeugt davon, dass Kunst das kann: eine Positive-Energie-Injektion sein, die Mut macht, Kraft und Zuversicht gibt, um die aktuellen Probleme und Herausforderungen des Alltags angehen zu können.

STANDARD: Wollen Sie das Festspielhaus daneben stärker international positionieren?

Masuch: Auf jeden Fall. Aber dafür ist es wichtig, dass das Haus auch lokal funktioniert: Wie ein Stein, den man ins Wasser wirft und der Kreise zieht. Der engste Kreis sind die Menschen, die hier leben. Die Herausforderungen jedoch, denen wir begegnen, passieren nicht auf lokaler Ebene, sondern sind globaler Natur, und es ist gut, zusammenzukommen, sich auszutauschen. Die Herausforderung der Zukunft wird sein, im internationalen Austausch mit Künstlerinnen und Künstlern den ökologischen Fußabdruck mitzubedenken. Hier gilt es, andere, bewusstere Strategien zu finden, um den internationalen Austausch aufrechtzuerhalten.

STANDARD: Planen Sie gerade für das lokale Publikum auch partizipative Projekte?

Masuch: Eigentlich wollten wir mit einem solchen Projekt starten. Da aber einfach nicht abzusehen war, ob es durchführbar sein würde, wurde es in die nächste Saison verschoben. Das Festspielhaus gibt mit seiner Architektur eigentlich eine andere Form der Nutzung vor. Deshalb möchte ich Künstlerinnen und Künstler auch dazu einladen, spielerisch andere Nutzungsmöglichkeiten auszuprobieren.

STANDARD: Im Programm finden sich viele Frauen. Ist Ihnen das ein besonderes Anliegen?

Masuch: Im Tanz arbeiten sehr viele Choreografinnen. Aber je größer die Bühnen, die Ensembles sind, desto seltener gibt es Frauen in Leitungspositionen. Es gibt nicht viele Häuser, die in einer Größenordnung arbeiten können wie das Festspielhaus, deshalb sehe ich das auch als unsere Aufgabe, Frauen zu ermutigen, sich die großen Räume zu erobern. (Andrea Heinz, 3.9.2022)

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Mit "Serben sterben langsam" gastiert die Politsatirikerin und einstige "Gastarbeiter"-Tochter Malarina am 10. November in der Bühne am Hof.
Foto: Vanja Pandurevic

Pflanzen wollen an die Macht

Die Bühne im Hof bringt ein kabarettistisch-musikalisches Pingpong vor ihr Publikum: mit Sebastian Krumbiegel, dem Hot Pants Road Club, einer Huldigung an H. C. Artmann, Josef Hader und vielen anderen sauguten Acts.

Wer bei "Pingpong" nur an Tischtennis denkt, hat das neue Programmheft der Bühne im Hof noch nicht in der Hand gehabt. So nennt sich nämlich das Thema der kommenden Spielzeit der St. Pöltener Kleinkunstbühne und verweist so auf das Gefühl, vom Leben "hin- und hergebeutelt" zu sein.

Vor allem aber meint die "Bühne", wie sie von Stammgästen kurz genannt wird, das Zusammenspiel zwischen Kunstschaffenden und Publikum. "Und weil dieses Pingpong so wichtig für Kopf, Bauch und Hirn ist, darf es ,nie, niemals nicht‘ zu Ende gehen", sagt Daniela Wandl, die künstlerische Leiterin des Hauses. Kultur sei wichtig, und das besonders jetzt.

Ein zweites Thema, dem sich das Theater widmen möchte, ist Courage. Deshalb wurde Sebastian Krumbiegel mit seinem Abend Courage zeigen – Eine musikalische Lesung eingeladen (4. 11.). Der Sänger der Band Die Prinzen engagiert sich seit Jahren für Zivilcourage. In seiner Heimatstadt Leipzig hat er bereits 1998 das Festival "Leipzig – Courage zeigen" gegründet, 2003 wurde er selbst von Rechtsradikalen überfallen.

Mit der Lesung aus seinem Buch und Konzertmomenten am Piano ist der Abend einer der Höhepunkte des Bühne-im-Hof-Programms.

Courage und Abenteurer

Im selben Jahr geboren wie Krumbiegel, nämlich 1966, ist der US-amerikanische Sänger Raul Midón. Der Jazz-Gitarrist, der bereits im Säuglingsalter erblindete, war schon zweimal eingeladen, seinen Soloabend in der "Bühne" zu spielen, doch jedesmal kam die Pandemie dazwischen. Nun ist der Singer-Songwriter am 16. Oktober zu Gast.

Eröffnet wird die Saison allerdings schon einen Monat zuvor, am 16. September mit einer österreichischen Band, die damit gleichzeitig ihr 30-jähriges Bestehen feiert. Der Hot Pants Road Club stellt seine 30th Anniversary Show unter das Motto "Dance and have a good time". Das siebenköpfige Ensemble hat sich in Oberösterreich gefunden und spielt seitdem Funk, Soul und Pop.

Auch Musik aus Österreich und ebenfalls eine Jubiläumsfeier liefern Erwin Steinhauer, Georg Graf, Joe Pinkl und Peter Rosmanith mit einem Abend, der "keine Lesung, kein Theater und kein Hörspiel, aber trotzdem etwas von allem" sein soll. Ich bin Abenteurer und nicht Dichter heißt das Programm am 1. Oktober, das dem literarischen Œuvre H. C. Artmanns huldigt, der 2021 hundert Jahre alt geworden wäre.

Öfter zu Gast ist der deutsche Kabarettist, Autor und Komponist Andreas Rebers. In seinem neuesten Programm Ich helfe gern (26. 11.) spricht er unbequeme Wahrheiten an. Immer wieder pandemiebedingt verschoben wurde Galápagos von Berni Wagner, das den Österreichischen Kabarettpreis bekommen hat und nun Teil der "Jung & Saugut"-Schiene für den Kabarettnachwuchs ist. In diesem mittlerweile vierten Soloprogramm übt der studierte Biologe Wagner Kritik am Umgang mit der Natur (30. 9.).

"Vergissmeinnicht" gegen Demenz

Die ist auch Teil des neuen Bühnenprogramms einer altbekannten Kabarettgröße. "Meine Theorie ist, die Pflanzen woll’n die Herrschaft über den Planeten zurück. Die sind alle miteinander unterirdisch verbunden über ihre Wurzeln. Weltweit!" So heißt es in Josef Haders neuem Abend Hader on Ice (16. 12.).

Zu beachten ist auch der Abend von Christoph & Ernst Grissemann, die mit ihrem Vater-Sohn-Weihnachtsabend Klappe, Santa! eigentlich nicht mehr auf Tour gehen wollten, für die Bühne im Hof aber eine Ausnahme machen. Das Gespräch und die Lesung aus ihrem gleichnamigen Buch findet am 1. Dezember statt.

Das Kinderprogramm bietet vier Veranstaltungen, die alle auch im Abo besucht werden können. Darunter das neue Stück der Musikvermittler Die Schurken, die mit Vergissmeinnicht Niederösterreich-Premiere feiern (25. + 26. 9.). Für ein Publikum ab sechs Jahren eignet sich das Kindermusikprogramm, in dem sich die vier Musiker und Schauspieler einem seltenen Thema widmen: Demenz. Die Schurken verorten ihre Vorstellung im Altersheim, spielen selbst die dortigen Bewohner und zeigen, wie man musikalisch wieder Erinnerungen hervorrufen kann.

Übrigens: Beim Kauf von vier Karten erhält man einen Gratisscheck für eine Vorstellung aus der "Jung & Saugut"-Sparte, neben Wagner finden sich dort auch Christoph Fritz (21. 10.), Malarina (10. 11.) und Simsa Fünf (25. 11.). (Katharina Stöger, 2.9.2022)