Vor genau drei Jahren hat mein amerikanischer Schriftstellerkollege Jonathan Franzen einen vielbeachteten und -kritisierten Essay mit dem Titel What if We Stopped Pretending? veröffentlicht. Im September 2019 erschien der Text im Magazin The New Yorker, er beschrieb, dass wir uns eingestehen sollten, nichts mehr gegen die Klimakatastrophe, diese selbstgemachte Apokalypse, tun zu können. Es wäre an der Zeit, diese Tatsache zu akzeptieren. "I can run ten thousand scenarios through my model, and in not one of them do I see the two-degree target being met", schrieb Franzen.

Ein halbes Jahr später brachte das Coronavirus die Welt zum Stillstand, eine Form der Apokalypse offenbarte sich, die Franzen inmitten anderer Endzeitszenarien nicht vorhergesehen hatte. 2022 kam der neue Krieg in Europa mit all seinen unüberschaubaren Folgen hinzu. Die destruktive Energie eines Wladimir Putin verbreitet sich seither wie ein Lauffeuer rund um den Globus. Franzen hat 2019 auch ohne das Wissen um diese neuen Realitäten feststellen müssen: Die Krisen, in die wir uns manövrieren, kriegen wir nicht mehr in den Griff. Diese Sichtweise galt als pessimistisch, demotivierend, kontraproduktiv. Heute ist es eine Überzeugung, zu der viele gekommen sind.

Bild nicht mehr verfügbar.

"Jeder Winkel unseres Planeten, jeder Mensch, jedes Tier, jede Pflanze, jedes Meer ist von der Klimakatastrophe betroffen, allein, der Gedanke daran überfordert uns": Hans Platzgumer.
Foto: Getty Images / Malte Mueller

Die Welt neu denken

Derweil sind wir nicht nur um negative Erfahrungen reicher geworden. Die Pandemie war neben allem Schrecken und Leid, die sie verbreitete, auch eine Quelle der Inspiration. Sie zeigte, wozu wir fähig sind. Aus augenblicklicher Not heraus schaffen wir es, die Welt neu zu denken. In einer Ausnahmesituation können wir abrupt mit dem Unfug aufhören, der uns und unseren Planeten in den Ruin treibt.

Hätte Franzen das geahnt, hätte er seine These womöglich dahingehend präzisiert, dass wir nicht unser Scheitern anerkennen, sondern die Klimakrise als Notsituation begreifen sollten. Doch die in der Not zu akzeptierenden Freiheitseinschränkungen bringen das demokratische Grundverständnis und den Zusammenhalt der Gesellschaft an ihre Grenzen, auch das haben wir erfahren. Darüber hinaus erstreckt sich die Klimakatastrophe über einen viel längeren Zeitraum als die Pandemie – auch wenn sie schneller als prognostiziert voranschreitet und wir heute nicht mehr von Jahrzehnten, sondern von wenigen Jahren ausgehen, in denen irreversible Kipppunkte erreicht werden. Sie ist kein Ausnahmezustand, sondern die neue Normalität.

Haben also die Erfahrungen der letzten Jahre Franzens Pessimismus bestätigt? Fürwahr, niemand glaubt heute mehr an das Zwei-Grad-Ziel des Pariser Klimaabkommens, und der Krieg macht, was jeder Krieg macht, er wirft unsere Evolution um Jahrzehnte zurück. Franzens Text wurde von der Realität überholt. Seine Grundaussage aber besitzt nach wie vor Gültigkeit. So sehr es schmerzt, wir müssen die Tatsachen annehmen, wie immer sie sich präsentieren. Nicht sie zu konstatieren, sondern sie zu verleugnen ist kontraproduktiv. Wir müssen einsehen, wo wir stehen.

Bild nicht mehr verfügbar.

Das Eintauchen in das Virtuelle und in "Bubbles" birgt auch Möglichkeiten – solange man sich nicht von der Außenwelt abriegelt und den Erkenntnissen verschließt, die sie bietet.
Foto: Getty Images / Malte Mueller

Probleme benennen

Das Problem zu benennen ist der erste unverzichtbare Schritt jeder Therapie. Auf die Einsicht aber müssen weitere Schritte folgen. Es reicht nicht, schlicht festzustellen: "Ja, ich bin Alkoholiker." Probleme erfordern eine Lösung. Bei komplexen Problemfeldern werden Lösungen in Teilaspekten gesucht, üblicherweise von der Wurzel des Übels her. Die Klimakatastrophe ist ein unglaublich komplexes Problem.

Jeder Winkel unseres Planeten, jeder der knapp acht Milliarden Menschen, jedes Tier, jede Pflanze, jeder Berg, jedes Meer ist betroffen, alles beeinflusst sich gegenseitig. Bloß, der Gedanke daran überfordert uns. In Schockstarre verharren wir wie die Maus vor der Schlange. So schwer uns aber der Umgang mit dem Klimawandel fällt, die Wurzel des Übels ist einfach zu benennen. Wir selbst, Sie und ich, die Bevölkerung der Industrienationen ist in ihrer beispiellosen Ausbeutung der Welt, die sie sich untertan zu machen gedachte, zu weit gegangen, zu gierig geworden. An uns selbst also muss die Arbeit beginnen. Erkennen wir das von uns produzierte Problem nur an, lassen es aber tatenlos gedeihen, tun wir, was der Alkoholiker tut, wenn er der Problemeinsicht keine Lösungsversuche folgen lässt: Wir rotten uns selber auf grausame Weise aus. Ein Suizid entsteht aus Überforderung, aus Hoffnungslosigkeit, höchster Verzweiflung heraus, er wird nie von glücklichen, zufriedenen Menschen begangen. Der "Happy Suicide" ist eine Mär. Wir müssen also etwas für unseren Glückshaushalt tun, wollen wir nicht auf diese Weise enden.

Suche nach Sinn

Angesichts des Frusts über das Nichtvorankommen der Menschheit in der größten ihrer Krisen erscheinen die Bemühungen des Einzelnen zuweilen sinnlos. Doch ist nicht unsere schiere Existenz sinnlos, solange wir sie nicht selbst mit Sinn erfüllen? Unser Dasein hat nur den Sinn, den wir ihm geben, ansonsten ist da nichts, nur ein Anfang und ein Ende, dazwischen eine mehr oder weniger kurze Zeitspanne, die sinnlos sein kann oder eben nicht. Das Weltgeschehen, in das wir eingebunden sind, kann nicht einmal ein Präsident der Vereinigten Staaten groß beeinflussen.

Sobald wir eine Informationsquelle aufdrehen, wird uns das Scheitern der Weltpolitik vor Augen geführt. Eine Demoralisierung, eine zerstörte Hoffnung nach der anderen prasselt auf uns ein. In meiner kleinen Welt hingegen bestimme ich den Nachrichtenfluss.

So ernüchternd der Blick durch die Vogelperspektive ist, in der Regieführung meines Lebens stehen mir Perspektivenwechsel zur Verfügung. Ich nehme zur Kenntnis, was draußen passiert, und zoome dort hinein, wo ich die Verantwortung trage. Dieser Bereich mag nur das Innere meines eigenen Kopfes sein, oft aber steht sogar ein größeres Wirkungsfeld zur Verfügung. Es erstreckt sich von meiner direkten Umgebung auf Menschen, die ich direkt erreiche, Handlungen, die ich direkt setze, Handlungen, auf die ich bewusst verzichte.

In diesem Kleinen ist nicht alles verloren, außer ich will es so. Sehr wohl kann es das richtige Leben im falschen geben, zumindest das richtigere. Adornos berühmter Satz, der das Gegenteil zu behaupten scheint, bezog sich 1951, als der Philosoph ihn in die Welt setzte, auf Mobiliar, er wandte sich nicht, wie heute oft gedeutet, gegen jeden Aktivismus inmitten einer kaputten Welt. Solange ich nicht Scheuklappen aufsetze und mich hermetisch von der Außenwelt abriegle, mich nicht den Erkenntnissen verschließe, die sie mir bietet, spricht nichts dagegen, in einer Blase zu leben, in der andere Gesetzmäßigkeiten herrschen als draußen. Alle führen ein Leben in ihrer Bubble, auch das ist eine Wahrheit, die ich anerkennen muss. Alle tauchen in virtuelle oder reale Parallelwelten ab. Die Blase, in der ich agiere, kann ich möglichst frei von Dummheit, Gier und Hass halten.

Eigenverantwortung

Hier steht alles in meiner Verantwortung. Es ist meine Entscheidung, ob ich mit dem Billigflieger den nächsten Städtetrip mache oder nicht. Ob ich mit dem Elektro-SUV fahre anstatt mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ob ich auf Kunstschneepisten an meinem Skiurlaub festhalte, Billigfleisch konsumiere, mit dem Motorrad über Alpenpässe brumme oder eine Serie nach der anderen streame, wissend, dass durch den Energiefraß der hierfür notwendigen Rechenzentren die vergleichbare Menge CO2 emittiert wird, als würde ich pro Film mit dem Auto ein paar Runden um den Block drehen.

Es ist meine Entscheidung, wie viel Plastikmüll ich produziere, und auch, ob ich keine Kinder in eine Welt setzen will, die dem Untergang geweiht scheint, oder eben gerade deswegen Kinder haben will, weil sie die einzige Hoffnung sind, die wir haben. Das Kerosin, das meinetwegen in die Atmosphäre geschleudert, der Wald, der abgeholzt, der Boden, der versiegelt wird, die Lebensräume, die dem Lithiumabbau geopfert, und Kinderleben, die in Kobaltminen weggeworfen werden, ich entscheide, wie weit ich all dies in mein Leben einrechne. Die Fakten sind vorhanden, wie sie vor drei Jahren auf Franzens Tisch gelegen sind. Die Verantwortung, die mir aus ihnen entsteht, kann ich weder auf einen Gott noch auf die Weltpolitik abwälzen. Ich selbst muss dafür Sorge tragen, dass dieser kleine Bereich, den ich beeinflussen kann, ein möglichst intakter bleibt.

Viel Ich steckt in diesen Zeilen. Ja, der Klimaschutz, im Privaten gesehen, ist ein Egoismus. Er zielt auf das eigene Wohlergehen ab. Das sollte uns nicht abschrecken, jedem Altruismus liegt ein Egoismus zugrunde. "Was soll nicht alles meine Sache sein?", fragte Max Stirner schon Mitte des 19. Jahrhunderts anhand der Überwältigung, die von außen an ihn herangetragen wurde. Er klinkte sich aus den öffentlichen Zwängen aus und landete vom schamlosen Egoismus ausgehend im eigenverantwortlichen Handeln. Wer egoistisch lebe, tue automatisch Gutes, mutmaßte Stirner, weil das Leiden der anderen dem eigenen Glück im Wege stehe.

Der Klimaschutz benötigt neben umfassenden, radikalen politischen Sofortmaßnahmen auch ein solch Stirner’sches Ich. Eine Selbstzentrierung, die nichts mit Selbstbereicherung oder Konkurrenzkampf zu tun hat. Das Ich ist lediglich der natürliche Ausgangs-, Mittel- und Zielpunkt unseres Denkens. Und meistens ist da auch ein kleines Wir, das das Ich umringt, und dieses wächst womöglich zu einem größeren Wir heran. Auch das ist die Verantwortung, die wir tragen: Wir alle sind Vorbilder. Was immer wir tun, beeinflusst andere. Es gibt immer jemanden, der uns zusieht. Wir sind gute oder schlechte Beispiele, ob wir wollen oder nicht, niemand ist davon ausgenommen.

Wer derartige Überlegungen als moralistisch empfindet und reflexartig ablehnt, entscheidet sich, weiter im Gestern zu leben, in jenen Tagen, die er vielleicht als gute alte Zeit verklärt, in denen er aber blindlings die Vernichtung unseres Planeten vorangetrieben hat. Eine Generation später kann sich niemand mehr auf ein Nichtwissen berufen. Heute kann ich höchstens all die Verwerfungen, das Elend, das Leid, den Tod unzähliger Menschen und Lebewesen schulterzuckend hinnehmen und mir vorgaukeln, es gehe mich nichts an. Ich kann versuchen, jedes ethische Bewusstsein zu negieren. Das widerspricht jedoch dem Streben nach einem glücklichen, erfüllten Leben, diesem kleinsten gemeinsamen Nenner, der alle Menschen verbindet. Menschenverachtendes, destruktives Verhalten ist niemals das eines glücklichen, zufriedenen Menschen. Sieht Putin wie ein glücklicher Mann aus?

Hans Platzgumer, geboren 1969 in Innsbruck, ist Schriftsteller, Komponist, Musiker und Produzent. Er lebt bei Bregenz.

Foto: APA/Hochmuth

Glücksschulen

An indischen Schulen findet seit einiger Zeit verpflichtender Glücksunterricht statt. Zu Beginn und am Ende der täglichen "Happiness"-Stunden meditieren die Schülerinnen und Schüler, dazwischen lernen sie über Achtsamkeit, Eigenverantwortung, Wertschätzung, über Respekt füreinander, Konfliktbewältigung oder kritisches Denken. Dieses Lehrfach zeigt, wie der in unserem fossilierten Bildungssystem meist alibimäßig abgehaltene Ethikunterricht funktionieren könnte. Studien belegen, wie die "Happiness Classes" zu weniger Depressionen und Aggression führen, zu gesteigertem Selbstbewusstsein und höflicherem Zusammenleben.

Der Schlüssel zu allen gesellschaftlichen Krisen – auch die Klimakrise ist eine solche – liegt in der Bildung. So entscheidend Bildung für das gesellschaftliche Vorankommen ist, so beschämend wird sie von unserer Politik vernachlässigt, wohl weil ihre Früchte erst in nachfolgenden Legislaturperioden geerntet werden. Wir aber sind die Kinder von gestern, wir haben zu wenig, zu spät kapiert. Zu lange sind wir ignorant gewesen. Die nachkommende Generation muss geradebiegen, was meine verbogen hat. Das Mindeste, was wir tun können, ist, sie dabei zu unterstützen. Und wer weiß, vielleicht erfindet in naher Zukunft eine geniale, durch Glücksunterricht gestärkte junge Inderin die Wunderwaffe gegen den Klimawandel? Das mag Stoff für Marvel-Comics sein, aber wirklich unvorstellbar ist heute nichts mehr.

Wer dem widerspricht, der hat die letzten drei Jahre seit Franzens Essay verschlafen. Ich für meinen Teil will die begrenzte Zeit, die mir auf Erden bleibt, nicht bloß verschlafen. Lieber will ich Heldin meines eigenen Marvel-Comics sein, jener fantastischen Geschichte, die in meinem Schädelinneren täglich aufs Neue verfilmt wird. (Hans Platzgumer, 3.9.2022)