Ich stehe am Friedhof von Sankt Magdalena. Es ist Sommer, die Luft ist heiß und schwül. Sankt Magdalena liegt ganz am Ende des Südtiroler Gsieser Tals, von hier stammt meine Familie väterlicherseits. Mein Großvater, Anton Reyer, wurde 1881 in Sankt Magdalena geboren und wuchs als Jüngster von zehn Kindern auf dem Weissberger Hof, einem Bergbauernhof, der auf über 2000 Meter Seehöhe liegt, auf. Der Friedhof ist klein, und die Namen auf den paar Dutzend Gräbern wiederholen sich immer wieder. Steinbacher, Huber, Reier. Das Verbot der deutschen Sprache im Zuge der Italianisierung war ein Schock, und dass die Familie in heimliche Untergrundschulen gehen musste, um die deutsche Sprache lernen zu können, muss für meinen Vater, obwohl er in Innsbruck aufwuchs, eine einschneidende Erfahrung gewesen sein. Die Abneigung gegenüber Italien und den Italienern wurde mein Vater zeit seines Lebens nicht mehr los.

Eigentlich wollte mein Vater Priester werden. Die Religion war für ihn etwas Poetisches, Natürliches. Und die Dolomiten in ihrer Stille und Einsamkeit waren Gott nahe Kathedralen. Bei uns zu Hause, in seinem Zimmer, hing ein prunkvolles Ornat wie ein Gemälde an der Wand. Dass er dann doch nicht in die Kirche eintrat, war vermutlich seiner bisweilen überschäumenden Libido geschuldet. Vor dem Fronteinsatz im Krieg bewahrte ihn sein angefangenes Medizinstudium. So kam er zur Dritten Gebirgs-Sanitäts-Ersatz-Abteilung 18 in Saalfelden und wurde anschließend verschiedenen Lazaretten zum Dienst zugeteilt. Nach dem Krieg nahm er das Medizinstudium an der Universitätsklinik Innsbruck kurz wieder auf, begann aber bald beim Innsbrucker Rundfunk als Radiosprecher und wurde dann Schauspieler.

Das Lesen erschloss meinem Vater in seiner Jugend eine neue Welt. Er begab sich auf die Suche nach der Sprache außerhalb des Dialekts und wollte diese Sprache ganz erwerben, sie sich ganz aneignen und zu ihr gehören. Mit ihr entdeckte er die Freiheit, wie er sagte. Es war die Suche nach einem Alphabet der Gefühle. Denn in den Bergen, in den Ursprungsfamilien meines Vaters herrschte eine karge Sprache. So gesehen war das Burgtheater für meinen Vater noch ein paar Kontinente weit entfernt.

Speck, Schüttelbrot und Wein

Viele Sommer verbrachte mein Vater hier in Sankt Magdalena. Viele Sommer verbrachten wir, seine vier Kinder, hier und in der Nähe von hier, auf der Seiser Alm. Gemeinsam mit unseren Eltern besuchten wir die Verwandten auf ihren Höfen. Die Bäuerin kochte Schlutzkrapfen auf dem mit Holz beheizten Ofen. Mit einem Schürhaken zog sie die Eisenringe je nach Gebrauch wie eine Jongleurin aus der Ofenplatte. Wir saßen mit unseren Verwandten in der Küche und aßen alle aus einer einzigen, großen Schüssel. Wir gingen mit aufs Feld, halfen beim Heuen, stiegen in eiskalten Bächen herum und saßen abends in der hundertjährigen duftenden Zirbenstube. Mein Vater verfiel plötzlich wieder ins Tirolerische, und bei Speck, Schüttelbrot und Wein führte er nächtelang Gespräche mit seinem Cousin Peter.

Nach der Scheidung meiner Eltern 1977 kamen wir nicht mehr hierher, nach Sankt Magdalena. Ich gehe durch den Ort und spaziere den Weg hinauf zum Weissberger Hof. An einer Stelle entlang des Weges, kurz bevor man den Hof erreicht, wird gerade ein riesiges Hotel gebaut. Die asphaltierte Straße war in meiner Kindheit noch ein Schotterweg. Die Gerüche aber sind die gleichen. Es duftet nach frischen Wiesen, nach Nadelwald und kaltem Berggewässer. Oft kletterten wir Geschwister über die Hänge und durch den Wald vom Tal hinauf zum Hof und hangelten uns von einer Gruppe Walderdbeeren zur nächsten, bis wir oben ankamen.

"Da muss ein Platz in ihm gewesen sein, den ich nicht kannte": Tochter Cordula Reyer über ihren Vater Walther.
Foto: Picturedesk / Franz Neumayr

Der Hof wurde vor ein paar Jahren abgerissen, jetzt steht er neu da, weiß, glatt und hell. Nur die kleine Kapelle steht da wie eh und je am Rande des Berges, mit dem Blick hinab ins Tal. Neben der Kapelle steht ein Lindenbaum, darunter die alte Bäuerin, Lindenblüten pflückend. Ich stelle mich vor. Nach ein paar Sätzen verliert sie etwas von ihrem Misstrauen: " Meine Söhne sind nicht da, die sind Heu einbringen", sagt sie in uraltem und für mich nur schwer verständlichen Tirolerisch. "Mei, der Walther! Der kam immer wieder. Aber immer nur für kurze Zeit. Viele Frauen hatte der."

Zum letzten Mal habe sie ihn im Frühjahr 1999 gesehen. Da sei er gekommen, um seine todkranke und letzte lebende Cousine zu besuchen: "Moidele, ich bin gekommen, um Abschied zu nehmen", habe er zu ihr gesagt, erzählt sie, jetzt Hochdeutsch sprechend und ins Weite blickend. Vermutlich wusste mein Vater, dass auch sein Abschied nahte, denn im September desselben Jahres ist er gestorben.

Eine Welt ohne Konsumgesellschaft

Wir gehen in die Kapelle, in der drei kleine Gebetsbänke stehen. Vor uns ein zierlicher Altar, mit zwei brennenden ewigen Lichtern und einer Vase mit frischen Wiesenblumen, die auf einem strahlendweißen und gebügelten Tuch stehen. Die Bäuerin erklärt – etwas verwundert und leicht amüsiert darüber, dass ich sie nicht alle erkenne – die geschnitzten Holzfiguren: den heiligen Johann von Nepomuk, den heiligen Antonius, den heiligen Franziskus, die heilige Anna und die heilige Maria. Ich erinnere mich, dass mein Vater mindestens ein Mal im Jahr nach Tirol fuhr. So auch, als sein Cousin Peter starb, der ihm sehr nahe war. Er erzählte von der Aufbahrung seines Cousins in der Zirbenstube, die voll mit Kerzen und Blumen war, vom fortwährenden Gemurmel der Betenden.

Als mein Vater, der ein wildes Temperament hatte und zum Choleriker neigte, danach zurück nach Wien kam, war er tagelang still und in sich gekehrt. Überhaupt war er immer wieder so ungewöhnlich still. Da muss ein Platz in ihm gewesen sein, den ich nicht kannte oder den ich vielmehr nicht verstehen konnte. Dort hielt sich mein Vater dann auf. Ich glaube, dabei durchstreifte er seine Vergangenheit, reiste zurück in seine Kindheit und Jugend. Und zu seinen Eltern.

Die Welt, nach der mein Vater sich sehnte, war vorindustriell und bäuerlich geprägt. Eine Welt ohne Konsumgesellschaft und ohne Fernsehen. Es gab die Berge, und es gab Bücher. Er kam aus ärmlichen, beengten Verhältnissen, doch mir schien immer, dass auch die größte Stadtwohnung zu klein war für ihn. Und dass er in Wahrheit nur in der Natur und in den Bergen er selbst war.

Als ich 1962 als zweites Kind meiner Eltern geboren wurde, war mein Vater vierzig Jahre alt. Meine Eltern trennten Welten – und die zwanzig Jahre, also eine knappe Generation, die mein Vater älter war als meine Mutter. Als er meiner Mutter begegnete, hatte er bereits ein bedeutendes und erfolgreiches Leben hinter sich, feierte Erfolge auf deutschsprachigen Bühnen und spielte die Helden in zahlreichen Theaterstücken. Darunter Don Carlos, Mortimer, Max Piccolomini, Oerst, Antonius und Romeo. Er spielte den Jedermann in Salzburg, drehte mit Regisseuren wie Fritz Lang und Claude Chabrol.

Meine Mutter war erst zarte achtzehn Jahre alt und frischgebackene Maturantin, als sie und mein Vater ein gemeinsames Leben begannen. Zu Hause war mein Vater meistens in Bücher und Manuskripte vertieft. Wenn ich von der Schule kam, saß er in seinem Fauteuil und las. Er unterstrich seine Rollen mit schwarzem Kugelschreiber und fügte am Rand der Seiten Notizen hinzu. Die Rollen lernte er am besten, wenn er in der Wohnung auf und ab ging. Dabei hielt er das Manuskript gefaltet in seiner Hand und schritt murmelnd durch alle Räume.

Make-up trug meine Mutter nie. Mein Vater verbot es ihr. Umso mehr beschäftigte mich, dass er selbst immer große Mengen davon auftrug, wenn ich ihn in seiner Garderobe im Burgtheater besuchen durfte. Ich erinnere mich noch gut an den Geruch und die Konsistenz des Puders, an den Schminktisch mit dem beleuchteten Spiegel. Und an den Garderobier, der ihm Kostüme brachte und ihm beim Ankleiden half. Mein Vater nannte ihn "meinen guten Geist".

Berauschte Stimmung

Das Burgtheater flößte mir gehörig Respekt ein. Es war ausschließlich die Welt meines Vaters, in die wir Kinder nur manchmal eingelassen wurden. Zu Proben, zu Premieren und Vorstellungen. Die schönsten Augenblicke waren jene, wenn wir während einer Premiere in der Pause in die Kantine durften. Die Kantine war in bläuliche Schwaden von Zigarettenrauch getaucht. Die Schauspieler saßen in Kostümen und Masken wie aus anderen Jahrhunderten eng beisammen. Laut und fröhlich war es da. Die Stimmung war aber auch angespannt, adrenalinhaltig und irgendwie immer leicht berauscht.

In der Kapelle unterhalte ich mich noch lange mit der alten Bäuerin. Umso vertrauter wir uns werden, umso stärker wird ihr Südtirolerisch. Nicht alles, was sie sagt, verstehe ich. Schließlich verabschiede ich mich von ihr und spaziere gemächlich ins Tal hinunter, raste zwischendurch in der Wiese und schaue auf die Berglandschaft, die für mich die Seelenlandschaft meines Vaters ist. Plötzlich ziehen schwarze Wolken auf. Ich beeile mich, zum Auto zu kommen, und fahre noch einmal langsam bis an das Ende des Ortes, der binnen Minuten düster wirkt. Die schwarzen Wolken verbinden sich mit den schwarzen Bergen und werden eins. Wie aus Strömen beginnt es zu regnen. Vor der Kirche parke ich den Wagen und betrachte das Naturschauspiel. Es donnert und blitzt. Die Glocken der Kirche beginnen zu läuten. Lange läuten sie.

Hoffentlich sind sie mit dem Heuen fertig geworden, denke ich. Und dann an meinen Vater. Der, wäre er noch unter uns, still, fast feierlich neben mir sitzen würde, ergriffen von so viel Schönheit und dem Geheimnis der Wirklichkeit. (Cordula Reyer, 3.9.2022)