Als wir uns um fünf Uhr morgens treffen, ist der Tag auf dem Großmarkt schon fast wieder vorbei. "Die Ersten kommen abends um zehn hierher, es steigert sich bis zwei, und ab fünf nimmt es wieder ab", sagt Stephan Barasits. Als Geschäftsführer des Wiener Großmarkts ist er das zeitige Aufstehen gewöhnt. Fünf ist allerdings auch für ihn früh. Es ist ein Kompromiss aus unserem euphorischen Vorschlag, sich schon um zwei Uhr nachts zu treffen, und seinem gewohnten Arbeitsbeginn um sieben Uhr.

An der Einfahrt bei der Laxenburger Straße hat sich eine kleine Schlange gebildet, hauptsächlich Kleinlaster und Lieferwägen. Die großen Lkws, die Waren ins ganze Land und bis nach Ungarn bringen, sind um diese Uhrzeit längst wieder weg. Sie kommen mitten in der Nacht. Die Giraffenleuchten – riesige Lampen, die wie Kräne in die Höhe ragen – sorgen dafür, dass es am Großmarkt niemals dunkel wird. Heute, an einem sommerlichen Julimorgen, wird man sie nicht mehr lange brauchen. Als wir Richtung Blumenhalle gehen, schickt die Sonne bereits ihre ersten Strahlen über den Horizont.

Paletten werden in der Nacht stapelweise angeliefert.
Foto: Verena Carola Mayer

30 Hektar Obst und Gemüse

30 Hektar misst das Gelände: 30 Fußballfelder voller Obst und Gemüse, Blumen, Fleisch und Fisch. Die 1969 errichtete Blumenhalle ist der älteste Bereich. Drei Jahre später zogen die Obst- und Gemüsehändler, die bis dato ihr Waren rund um die Kettenbrückengasse verkauften, in den 23. Bezirk.

Seit nunmehr 50 Jahren sichert der Großmarkt die Versorgung von Stadt und Umland mit frischen Lebensmitteln. "Zwei Drittel von dem, was man in Wien kaufen kann, sind über den Großmarkt gegangen", sagt Barasits. Als der Markt 1972 offiziell eröffnet wurde, befanden sich rundherum – dort, wo heute Lagerhallen und Häuser stehen – Wiesen und Felder. Der ideale Standort: viel Platz, zentrumsnah und dank der Laxenburger Straße gut angebunden. "Ein Markt im Stadtzentrum wäre heute unvorstellbar." Zu groß das Warensortiment, zu fern die Lieferländer. Die Lebensmittel kommen aus ganz Europa, aus der Türkei, dem Iran.

Früher brachten viele Landwirte sie selbst zum Markt, verkauften Erdäpfel und Zwiebeln direkt von der Ladefläche. "Zwei, die mit dem Traktor kommen, haben wir heute noch", erzählt Barasits. Der Großteil der Ware aber kommt mit großen Sattelzügen. Mit einem klassischen Markt habe das nichts zu tun, meint er und zeigt auf einen Hubwagen, auf dem sich Kisten mit Karfiol und Zucchini stapeln. "So viel sollte bei einem Einkauf schon zamkommen."

Beeren für ein paar Tage

Dennoch: Auch die kleinen Händler gibt es noch. Zwischen all den meterhohen Türmen aus Obst- und Gemüsekisten sitzt Dezsõ hinter ein paar auf dem Boden aufgereihten Boxen. Der junge Mann kommt aus einer Kleinstadt im Westen Ungarns und ist nur für wenige Tage hier, um seine Beeren zu verkaufen.

Auch Bianca, die ein paar Stände weiter Obst und Nektar verkauft, arbeitet nur in den Sommermonaten am Großmarkt. Die ungewöhnlichen Arbeitszeiten machen ihr – "schon als Kind ein Nachtmensch" – nichts aus. Im Gegenteil. Sie liebt die kühlen Sommernächte, die nächtliche Ruhe. Trotz anstrengender Arbeit seien die Leute entspannter: kein Stress, kein Granteln. Die Stimmung sei familiär.

Der Wiener Großmarkt sei sehr kleinstrukturiert, sagt Marktchef Barasits, statt in großen Hallen finde sehr viel draußen statt. "Und nicht alle Großmärkte sind so offen wie hier." Manche sind von Stacheldraht umzäunt, dürfen nur mit spezieller Konzession betreten werden. In Wien darf jeder einkaufen, der vorbeikommt. Doch, so Barasits, nicht alle Händler freuten sich über die privaten Schnäppchenjäger, die ein Sackerln Paradeiser oder ein paar Schalen Beeren mitnehmen. Überhaupt: Die erhofften günstigen Preise bekomme nur, wer große Mengen abnehme.

Im Oktober 1972 eröffnete der Obst- und Gemüsemarkt seine Pforten, damals führten noch Gleise aufs Gelände, um die Waren per Zug anzuliefern. Heute kommen die Lkws.
Foto: MA 59

Lange wurde der Markt vom Marktamt verwaltet, seit 2019 wird er von einer eigens gegründeten GmbH geführt. Stephan Barasits’ Aufgabe als Geschäftsführer ist es, den Marktbetrieb an das veränderte Einkaufsverhalten und neue Kundenwünsche anzupassen. Seit einer Weile verfügt der Großmarkt über eine eigene Kleintransporterflotte. Denn statt in aller früh persönlich in den 23. Bezirk zu fahren, lassen sich immer mehr Gastronomen und Standbetreiber beliefern. Den Koch, der sich vor der Arbeit mit frischer Ware eindeckt, sieht man kaum noch. Ein weiterer Trend: Convenience-Produkte wie vorportionierte Salate, geschnittenes Gemüse oder Suppen, die vor Ort – aus der frisch angelieferten Ware – zubereitet werden. In einer neuen Halle wird ein Zerlegebetrieb für Halal-Fleisch entstehen. Und die Blumenhalle wird 2023 komplett neu gebaut und erweitert.

40 Tonnen Mist am Tag

In den letzten Jahren wurde außerdem viel in die technische Infrastruktur investiert. Ein modernes Zufahrtssystem wurde etabliert, Kameras aufgestellt, Strom- und Wasserleitungen – viele noch aus den 1970er-Jahren – erneuert. Sie verlaufen in unterirdischen, mannshohen Rohren. Ein sechs Kilometer langes Tunnelsystem, das sich 50 Jahre nach seinem Bau noch immer bewährt.

Manche Händlerinnen und Händler verkaufen ihre Ware ...
Foto: Verena Carola Mayer

Anderes hingegen hat ausgedient: Das ehemalige Zollgebäude etwa, an dem früher die ankommenden Waren kontrolliert wurden. Hinter dem verlassenen Flachbau liegt der betriebseigene Müllplatz. Rund 40 Tonnen Mist kommen an einem typischen Markttag zusammen. Kartonage, Holzkisten, Biomasse. Was noch essbar ist – bis zu eine Tonne pro Tag –, geht an die Tafel. "Für uns eine ganz wichtige Institution", sagt Barasits. Sie geben die Lebensmittel an Bedürftige weiter oder nutzen sie für Kochprojekte mit Kindern.

Als wir den Müllplatz verlassen, stolpern wir über ein weiteres Relikt vergangener Zeiten: stillgelegte Gleise. Früher wurden viele Waren mit dem Zug zum Großmarkt transportiert. Heute wäre das kaum mehr praktikabel: weil viele empfindliche Lebensmittel unterbrochen gekühlt werden müssen, weil immer mehr Flexibilität gefragt ist und weil die Waren heutzutage aus aller Herren Länder kommen.

... gleich direkt von der Freifläche weg.
Foto: Verena Carola Mayer

Wer verreisen will, muss eigentlich nur zum Großmarkt fahren. "20 Sprachen werden hier gesprochen", erzählt Barasits. 1.400 Menschen aus 41 Nationen arbeiten auf dem Gelände. Rozh ist einer von ihnen: Seit 2015 lebt der Iraker in Wien, seit kurzem ist er bei der Wiener Tafel angestellt. Gerade packt er mehrere Kisten mit Ananas auf die Ladefläche seines dreirädrigen Kleinlasters, mit dem er jeden Morgen die Stände abklappert.

Käsekrainer und Toast mit Sucuk

Ein Stück weiter, vor einer Halle mit Obst und Gemüse, treffe ich Mehmet – die Sonne im Gesicht und ein großes Stück Wassermelone in der Hand. Er stammt aus der Türkei und ist einer der Lkw-Fahrer, die dafür sorgen, dass die Wiener Supermärkte schon frühmorgens mit frischer Ware versorgt sind. Seit Mitternacht ist er unterwegs. Nun, da die Sonne schon hell am Himmel steht, ist Zeit für eine kurze Pause: Rauchen, Schwatzen, Wassermelone. "Wir müssen ja kosten, ob sie gut schmeckt", sagt er augenzwinkernd und drückt mir ein Stück in die Hand.

Mehmet ist einer jener Lkw-Fahrer, die den Großmarkt mit Melonen und Marillen beliefern.
Foto: Verena Carola Mayer

Auch am Kiosk von Bünyamin haben sich gerade drei Männer zur Pause versammelt. Auf der Speisekarte: Kaffee und deftige Küche – Hühnerschnitzel, Käsekrainer, Toast mit Sucuk. Öffnungszeiten: zwei bis zehn Uhr. Dass am Großmarkt nachts gearbeitet wird, liegt nicht nur daran, dass Kunden sich frühmorgens volle Obst- und Gemüseregale wünschen. Vor allem im Sommer, wenn die Ware schnell verdirbt, ist es von Vorteil, die kühlen Nachtstunden zu nutzen.

Dennoch: Ohne Kühlhallen und klimatisierte Lkws geht es nicht. Der dafür benötigte Strom, so die Vision, könnte irgendwann selbst erzeugt werden. Nicht nur die Kühlung, auch die nächtliche Beleuchtung ist energieintensiv. Mit Photovoltaikanlagen soll es in Zukunft grünen Sonnenstrom geben – "Dachflächen", sagt Barasits, "gibt es ja genug".

Fische im Zuchtbecken

Das bei der Eröffnung im Jahr 1972 nur spärlich bebaute Gelände wurde mit den Jahren ständig erweitert, neue Markthallen und Logistikzentren errichtet. Die türkische Supermarktkette Etsan ist hier vertreten, ganz in der Nähe liegt der Abholmarkt des Großhandelsunternehmens Mulackal, in dessen meterhohen Regalen sich Kartons mit Gewürz- und Reissäcken stapeln. Ein Stück weiter hat ein auf Südfrüchte spezialisierter Importeur eine Halle mit riesigen Wärmekammern errichtet, in denen Bananen und Mangos reifen. Nebenan gibt es Fisch und Meeresfrüchte, teils direkt am Großmarkt in eigenen Zuchtbecken herangewachsen.

Als Umschlagplatz im Herzen Mitteleuropas sei der Markt heute unverzichtbar, sagt Barasits. Die Pandemie hat dem Geschäft, im Vergleich zu vielen anderen Branchen, kaum geschadet. Als sich viele nicht mehr in den Supermarkt trauten, baute das Großmarkt-Team einen kontaktlosen Drive-in-Verkauf auf. "Die Warenströme haben sich geändert. Aber die Leute haben ja nach wie vor gegessen."

Wer verreisen will, muss einfach nur zum Großmarkt fahren. Hier arbeiten 1.400 Menschen aus 41 Nationen, werden 20 Sprachen gesprochen.

Die kleinen Händler der Wiener Märkte hingegen hat die Pandemie hart getroffen. Das Geschäft laufe schlechter, sagt Mehmet, der gerade Waren für seinen Stand am Brunnenmarkt abholt. Erst Corona, nun der Krieg in der Ukraine. Er kam vor über 30 Jahren aus der Türkei nach Wien. Seinen ersten Job hatte er am Naschmarkt, die "Universität unserer Branche". Er lernte, wie man einkauft, verhandelt, andere Sprachen spricht: Deutsch, Russisch, Ungarisch, Polnisch, ein wenig Arabisch – "was man eben braucht, wenn man in unserem Bereich arbeitet".

Nachdem er seine Ware verladen hat, steht er mit den Kollegen zusammen. Es gibt Kaffee, türkischen Tee, die obligatorische Zigarette und viele Scherze. Die Stimmung ist entspannt – trotz Müdigkeit und langer Arbeitszeiten. "Mein Tag müsste 32 Stunden haben", sagt Mehmet. Dann verabschiedet er sich. Es ist kurz vor acht. Sein Mitarbeiter am Brunnenmarkt wartet schon sehnlich auf die frische Ware. Dort geht der Markttag nun erst richtig los. Am Großmarkt hingegen, sagt Stephan Barasits, sei es spätestens ab neun "ganz ruhig und gemütlich". (Verena Carola Mayer, 4.9.2022)