Wie einen 1150-Seiten-Roman auf die Bühne bringen? Die Josefstadt probiert es mit nackten Leibern. Hier Claudius von Stolzmann und Silvia Meisterle (Karenina).
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Anna Arkadjewna Karenina beansprucht zu lieben, wie freie Menschen es tun. In ihrer Epoche, Tolstois Roman erschien 1877 bis 1878, konnte sie daran nur irre werden. Nach etwa 1150 Seiten hat die Suchende alles verloren und stürzt somnambul nach den Resten ihres Lebens tastend vor den einfahrenden Zug. Überrollt und zermalmt vom Symbol des Fortschritts, bitterer war Ironie auch in der Literatur selten. Sind wir heute glücklicher? Ja, irgendwie schon. Oder auch nur anders unglücklich.

Tolstois Welt (1828–1910) sind die Gesellschaftsspiele einer schmalen Oberschicht im zaristischen Militärstaat. Er selbst hatte einmal dazugehört. Nachdem der Graf, standesgemäß möchte man sagen, eine erhebliche Erbschaft durchgebracht hatte, ging er als Offizier auf imperiale Abenteuer im Kaukasus.

Später kehrte er dieser Gesellschaft den Rücken und pries zum Anarchopazifisten geläutert pflanzliche Kost und die Schlichtheit des bäuerlichen Lebens. Dass diese Welt so fremd ist, ihre Figuren gerade nicht so sind wie wir, erlaubt in der Differenz so etwas wie Selbsterkenntnis.

Darin mag auch die unglaubliche intertextuelle und intermediale Karriere dieses Stoffes gründen. Generationen von Kinopublikum schluchzten zu Kareninas aufhaltsamem Abstieg, und auch die Theater versuchen sich ungebrochen daran. Amélie Niermeyer hat basierend auf einer Bearbeitung von Armin Petras und teilweise wieder zurückkehrend zu der brillanten deutschen Übersetzung von Rosemarie Tietze Anna Karenina für das Theater in der Josefstadt eingerichtet.

Einsehbare Kulissen

In dieses Kleinod unter den Wiener Bühnen, das jeden Satz zum intimen Kammerspiel verwandeln kann, baut Stefanie Seitz noch einmal ein kubisches Gerüst ein: Ein White Cube fürs Theater der Nachkriegsmoderne? In den einsehbaren Kulissen stehen elegante Sitzgelegenheiten, Bistrotische mit Lampenschirmchen drauf, es fehlen nur noch die Tischtelefone im Kontaktcafé. Alles irgendwie spätes 20. Jahrhundert.

Anna Karenina (Silvia Meisterle) passt schon zu Beginn nicht hierher. Ihren Roben und Marlene-Dietrich-Hosen in glitzernden, den Körper umfließenden Materialien (Kostüme: Christian Schmidt) haben schlicht zu wenig Auslauf. Das mondäne Mezzo-Timbre, das sie ihrer Anna auf den Weg gibt, sehnt sich nach gutem altem Breitwandkino, gegeben wurden allerdings Familienserie und ein Problemfeature mit Scheidungskind. Die Rechtslage ist in etwa jene vor den Broda’schen Familienrechtsreformen.

Etwas Raumgewinn durch Beschleunigung schafft die Tanzfläche. Sie ist so präpariert, dass das Ensemble darauf eislaufen kann, und es gibt tatsächlich eine Eisprinzessin, Kitty (Alma Hasun), unglückliche Fürstentochter auf der Suche nach einer guten Partie.

Im letzten Drittel bekommt sie dann doch noch ihren metaphysisch obdachlos philosophierenden Gutsbesitzer Lewin (Alexander Absenger). Hasun macht einen überkandidelten Teenager aus ihr, dem die Flausen unterm geföhnten Mireille-Mathieu-Pony nur so toben.

Entgöttertes Mittelschichtelend

Sie erzeugt damit eine Künstlichkeit, die ihrer lieben Not damit, die Projektionen ihrer Heiratskandidaten zu bedienen, eine Form gibt. Stepan Arkadjitsch (Robert Joseph Bartl), eigentlich ihr Schwager, wird zum Familienvater einer Vorabendserie, der unentwegt kopfschüttelnd mit den Armen rudert über die Jugend von heute.

Dabei will die Kleine doch nur ein wenig tanzen. Seine Frau Dascha (Alexandra Krismer), im Roman eine entscheidende Figur, ist die Mutter, der alle alles sagen können. Im entgötterten Mittelschichtelend ersetzt sie sogar den Popen bei der Beichte.

Hier kann es für Anna nur Mesalliancen geben, ihr Beziehungsdreieck mit Gatte und Liebhaber ist vielleicht gleichseitig öd, aber keinesfalls gleichseitig. Aus seinen politischen Kontexten gerissen ist der Ministerialbeamte Karenin (Raphael van Bargen) nur ein Aktenfresser, der privat zum gallesprühenden Sudhäfn aufläuft. Den schneidigen Grafen Wronski gibt Claudius von Stolzmann als Militärschlurf mit nachträglicher Kriegsdienstverweigerung. Wo die Reise gen Italien Freiheit den Liebenden verheißt, lümmeln sie vor den eingespielten Urlaubsvideos herum wie verzogene Oligarchenkinder.

Scheitern an der Simplizität

Theater wird an diesem Abend einmal mehr zur Nivellieranstalt. Auf der Suche nach dem vermeintlichen Kern einer allgemeinmenschlichen Wahrheit verheddert sich die totgelaufene Idee der Interpretation darin, jedweden Stoff auf den Horizont wohlfeiler Alltagserfahrungen "herunterzubrechen". In der geschichtsvergessenen Verblendung des Gegenwärtigen verlieren die Kunstwerke ihren utopischen Gehalt.

Alles, was über Konversation hinausgeht, funktioniert an diesem Abend über die Lautstärke. Selbst Annas Ende bleibt trotz eindrucksvoll projizierten Videogewitters im klinischen Befund stecken. Der Abend scheitert nicht, wie manch einer hinterher meinte, an der Komplexität des Romans, sondern an der Simplizität der Weltbetrachtung. (Uwe Mattheiß, 2.9.2022)