Am Donnerstag nahm Wladimir Putin an Michail Gorbatschows Sarg Abschied. Am samstäglichen Begräbnis wollte er nicht teilnehmen – aus Termingründen.

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Die Trauerfeier für Michail Gorbatschow, den großen Reformer und Architekten der Entspannungspolitik in den 1980er-Jahren, am Samstag auf dem Neujungfrauen-Friedhof sollte nur "Elemente eines Staatsbegräbnisses" enthalten – das erklärte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Für das letzte Staatsoberhaupt der zerfallenen Sowjetunion werde es "unter anderem eine Ehrenwache geben, und es wird eine Trauerfeier organisiert, wobei der Staat Hilfestellung bei der Organisation leistet". Russlands Präsident Wladimir Putin werde aber nicht teilnehmen. Er sei auf Dienstreise in Kaliningrad, sein Zeitplan sei eng getaktet, so die knappe Absage des Kreml.

Ein kurzgehaltenes Beileidstelegramm an die Angehörigen war alles: "Michail Gorbatschow war ein Politiker und Staatsmann, der gewaltigen Einfluss auf den Lauf der Weltgeschichte ausgeübt hat", schrieb Putin. Hingegen würdigte der inhaftierte Kreml-Gegner Alexej Nawalny den Verstorbenen auf Twitter als "herausragenden Mann".

Das Verhältnis zwischen Putin und Gorbatschow, der sich auch nach dem Zerfall der Sowjetunion bisweilen politisch einmischte, war spannungsgeladen. Die beiden seien zu unterschiedlich, sagt Carmen Scheide, Historikerin und Osteuropa-Expertin an der Universität Bern, zum STANDARD: "Gorbatschow versuchte bildlich gesprochen das schwankende Schiff Sowjetunion trotz starken Seegangs sicher in einen Hafen zu steuern. Putin ist der Seegang egal – er will das Meer beherrschen."

"Gorbi" – Heiliger oder Verräter?

Im Westen wird "Gorbi" fast als Heiliger verehrt. Er brachte der Welt Abrüstung, Entspannung – und den Deutschen die Wiedervereinigung. Doch in Russland sieht man ihn wesentlich kritischer. Laut einer Umfrage von 2016 fanden 46 Prozent, Gorbatschow habe zum Wohle des Landes handeln wollen. Doch 47 Prozent meinten, er habe nichts Gutes für den Staat getan. Und 24 Prozent meinten gar, Gorbatschow sei ein Verbrecher gewesen, der die mächtige Sowjetunion bewusst zu Fall gebracht habe. Im März 2018 sagte Gorbatschow in einem "Meduza"-Interview: "Ich bekomme Briefe, in denen ich gefragt werde, warum ich mich nicht erschossen habe. Weil ich angeblich schuld sei. ‚Sie hätten sich umbringen sollen, Herr Gorbatschow. Und wenn Ihnen das schwerfällt, rufen Sie mich, ich erledige das.‘"

Anfangs wurde der junge Generalsekretär zur Projektionsfläche aller Hoffnungen auf ein besseres Leben. Er versprach Aufschwung, bessere Wirtschaftsleistung, Entbürokratisierung, demokratische Mitwirkung und höheren Lebensstandard: eine optimierte Version des real existierenden Sozialismus. Doch er scheiterte. Den Zerfall der Sowjetunion konnte er nicht verhindern. Vielleicht war Gorbatschow zu blauäugig, zu idealistisch. Jedenfalls: Der Kapitalismus war stärker.

In den 1990er-Jahren, nach dem Zerfall des Riesenreichs, kam dieser mit aller Macht. Aus Sowjet-Funktionären wurden Unternehmer, aus Unternehmern Oligarchen. Unermesslicher Reichtum traf auf unermessliche Armut. Frauen ernährten die Familien mit Gemüse von der Datscha. Männer verdienten Geld, das nichts wert war. Es gab Schießereien auf den Straßen und Bombenattentate.

Ähnlich – und doch unterschiedlich

Allerdings war die Zeit auch eine des Aufbruchs mit Gedankenfreiheit, mit einer echten Opposition und kulturellen Experimenten. Wladimir Putin befriedete zunächst als Premier, dann als Präsident das Land. Es war zu Anfang ein durchaus demokratisches System, das im Lauf der Zeit aber immer repressiver wurde. Doch Gorbatschow stand zu seinen Idealen – und wurde mehr und mehr zum Kritiker des Systems. Putin habe er gewarnt, zu große Selbstsicherheit sei schädlich, so Gorbatschow im Interview mit der Onlinezeitung Meduza.

Gorbatschow und Putin: außenpolitisch gar nicht so weit auseinander. Vor dem Hintergrund der Ukraine-Krise kritisierte Gorbatschow das "Triumphgehabe" des Westens scharf. Die USA sah er als "Seuche der Welt", die Nato-Osterweiterung als Verrat. All dies würde Putin wohl auch so sehen. Hingegen kritisierte Gorbatschow laut Weggefährten die russische "Spezialoperation". Eine offizielle Reaktion von ihm ist aber nicht bekannt.

Innenpolitisch kämpfte Gorbatschow für Reformen – und stand mehr und mehr in Konfrontation zu Putin. "Wir brauchen Demokratie. Ohne sie wird es keine Modernisierung geben." Dafür setzt sich Gorbatschows Stiftung in Moskau ein.

Engagement für "Nowaja Gaseta"

Ein Dorn in Putins Auge ist die Kreml-kritische Zeitung "Nowaja Gaseta", deren Mitherausgeber Gorbatschow war. Mit Beginn der "Spezialoperation" musste die Zeitung ihr Erscheinen in Russland einstellen. Immer wieder kritisierte sie den Kreml und die Unterdrückung der Opposition. Die Gründer waren Journalisten, die sich nach Glasnost und Perestroika von der kommunistischen "Komsomolskaja Prawda" abwandten. Dmitri Muratow gehört zu den Gründern, 2021 bekam er den Friedensnobelpreis: für sein "Bemühen um die Wahrung der Meinungsfreiheit, die eine Voraussetzung für Demokratie und Frieden ist".

Der russische Oppositionspolitiker Grigori Jawlinski meint trauernd, es liege auch heute in der Verantwortung der Russen, die damals geschenkte Freiheit zu nutzen. Nur wenige Anführer hätten einen solchen Einfluss auf die Geschichte gehabt. "In seinen sechs Jahren an der Macht hat Michail Gorbatschow die Welt verändert." (Jo Angerer aus Moskau, 3.9.2022)