Darf ich bitte dein Hund sein? Iggy Pop gab im Konzerthaus, was er hat: Alles.

Foto: Wiener Konzerthaus / Markus Aubrecht

Was die Etikette betrifft, war das Publikum sich uneins: Da gab es schwerknochige Herren im Punkrock T-Shirt und kurzen Hosen, die ein haariges Handwerkerdekolleté offenlegten. Einige Plätze weiter ließ sich eine Dame im weißen Kleid nieder, mit dem ihr auf keiner Döblinger Veranstaltung der Zutritt verwehrt bliebe, während ihr Begleiter, vollkommen verwahrlost, den obersten Hemdknopf offen trug. So eine Mischung sieht man im Wiener Konzerthaus nicht oft.

Der Grund dieser illustren Zusammenrottung gab letztlich beiden Seiten Recht. Iggy Pop betrat die Bühne im Smoking. Betrat ist gut. Die Hüfte ist im Arsch, die Knie im Eimer, und das seit Jahrzehnten. Aber was von ihm übrig ist, schleppte er vors Publikum. Einem Derwisch gleich, entledigte er sich während des Openers Five Foot One des Oberteils, legte so den Oberkörper frei und griff sich – wie sagt man es, ohne Unwohlsein zu erzeugen? – an den Beidl. In der Hose. Full contact.

Rock'n'Roll als Nahkampfdisziplin

Das Konzerthaus als wahrscheinlich elegantester Saal des Landes war züchtig bestuhlt, doch das Publikum ging sofort hoch, denn Iggy, der langsam so alt wird, wie er aussieht, reißt jeden aus dem Sessel – und wenn es sein muss, den Sessel gleich mit. Viele Bands würden von einem Triumph sprechen, wenn sie so abtreten könnten, wie Iggy Pop empfangen wurde.

Der als James Osterberg geborene US-Amerikaner ist 75. Als schwieriges Kind, wie das damals hieß, rettete ihm der Rock’n’Roll das Leben. Den eignete er sich besonders radikal an, deutete ihn bald als Nahkampfdisziplin, und siehe da, es wurde Punk.

Foto: Wiener Konzerthaus / Markus Aubrecht

Ende der 1960er-Jahre war das und Iggy Sänger der Stooges. Während ein Scott McKenzie über San Francisco und Leuten mit Blumen in den Haaren sang, kroch Iggy auf allen vieren in seinem Blut über die Bühne, wollte ein Hund sein und sang vom Krieg in den USA. Die Musik der Stooges war aggressiv, laut, primitiv: Raw Power.

Das setzte sich als Attitüde im Privatleben fort, in Form üppiger Zufuhr verbotener Substanzen. Niemand hätte damals darauf gewettet, dass er jemals 75 wird. 1974 waren die Stooges Geschichte, bald Legende.

Unberührbarer

Mithilfe seines Freundes David Bowie begründete Pop in den ausgehenden 1970ern eine Solokarriere, die bis heute anhält und bei der nur wenige Werke abfielen, die ganz durchfielen. Er selbst ist längst ein Unberührbarer, gilt als oberste Instanz des Punk.

Auf seiner aktuellen Tour präsentiert er sein 2019 vor Corona erschienenes Album Free. Das bedeutet live die Hereinnahme von zwei Bläsern sowie eines Tastenmannes, die den ins Inferno ziehenden Frontmann adäquat begleiteten, eine Frau und sechs Männer bildeten die Band insgesamt, da war einiges los.

Der Deckel ging hoch, als er Lust For Life spielte. Ein manifester Song, den Pop schattenboxend und spuckend durchmaß und mit jedem schiefen Schritt sein Falten- und Muskelhemd zum Beben brachte, den Saal sowieso.

Nähe zu Bowie

Die Jahrhundertnummer The Passenger folgte, das Publikum übernahm den Gesang, Iggy genoss den Zuspruch, die Band drückte. Sister Midnight illustrierte, wie nahe sich Bowie und Pop künstlerisch Ende der 1970er waren, James Bond erwies sich als tauglichster Song des neuen Albums.

Der Sound war stellenweise breiig, vor allem dann, wenn Bläser und Synthie am Anschlag operierten – so wie der Rest der Band. Aber hey, es ist Punk und kein Violinkonzert. Und den Mann live zu erleben ist jedes Mal ein Naturereignis. Eines, das Lust aufs Leben macht. (Karl Fluch, 3.9.2022)