Ist den Launen des Glühbirnenfabrikanten Hofreiter hilflos ausgeliefert: Gemahlin Genia (Katharina Lorenz, li., mit Felix Kammerer als Fähnrich Otto von Aigner).

Foto: Ruhrtriennale / Matthias Horn

Der Tod bildet die natürliche Schranke des Menschen: Er bedeutet dessen endgültige Ruhigstellung. Doch in Wahrheit ist dieses Ende bloß ein scheinbares. Am Leichnam, der leer zurückgelassenen Hülle, stillen Heerscharen von Lebewesen ihren maßlosen Appetit. Und so hebt Das weite Land (1911), Arthur Schnitzlers größte, finsterste Tragikomödie, im Wiener Akademietheater als eine Art Frontbericht an.

Hinter einem durchscheinenden Vorhang ziehen Trauergäste im Gänsemarsch vorüber. Genia (Katharina Lorenz), die vernachlässigte Gemahlin des egozentrischen Glühbirnenfabrikanten Hofreiter, beugt ihr Haupt gramvoll auf die Lehne eines Clubfauteuils. Aus dem Off aber berichtet eine betont sachliche Stimme (Markus Scheumann) über das bunte Treiben biologischer Leichenfledderer: Fliegen, Mikroben, Milben, Fadenwürmer.

Ein junger Pianist, erpicht auf Frau Genias erotische Gunst, hat vor Beginn des Stücks Selbstmord begangen. Die ganze Badener Gesellschaft – wir befinden uns in der Sommerfrische – ist in Sack und Asche gehüllt. Selbst den Boden bedeckt schlackenschwarzer Sand (Bühne: Martin Zehetgruber). Doch während sich die bakteriologischen Freunde und Helfer bereits mit vereinten Kräften über den armen Suizidanten hermachen, hegen Schnitzlers Figuren noch immer Illusionen. Sie alle, angefangen von Genia über die töricht-verbissene Frau Wahl (Dorothee Hartinger) und deren naseweise Tochter Erna (Nina Siewert), behaupten steif und fest, am Leben zu sein.

In Spannung zur Moral

Die erotischen Geplänkel, die ihnen Doktor Schnitzler punktgenau auf den vor Begierde zitternden Leib geschrieben hat, bestärken sie noch. Sie allesamt glauben, sie wären Begehrende. Sie meinen, aus freien Stücken Entscheidungen zu treffen: spielerisch, höhnisch, in Spannung zur herrschenden Sexualmoral.

Doch der Clou dieser wunderlich bösen, ganz grandiosen Schnitzler-Adaption von Regisseurin Barbara Frey steckt im Detail. Irgendjemand hat nämlich vergessen, den Figuren mitzuteilen, dass sie längst mausetot sind. Und weil Mehr-Wissen Macht verleiht, ist Hofreiter (Michael Maertens) der kerngesunde Unterweltgott: Ein zufrieden blökender, höhnischer Hirte, der die armen Schatten, die an den Proben seiner Egozentrik schwer genug zu kauen haben, wie Schafe auseinandertreibt.

Maertens taxiert seine Frau als eingebildete Kranke. Hat sie tatsächlich mit dem Pianisten Korsakow…? Jede zärtliche Berührung gleicht einem Zitat. Irgendwann behauptet dieser still vergnügte Unhold allen Ernstes, er nehme es seiner Frau übel, sich dem Musiker versagt zu haben. Lorenz droht unter dem Eindruck dieser Infamie zu verfallen: großes, bürgerliches Schauspiel. Beider Eheleute Seelenfreund aber, der zart verkniffene Doktor Mauer (Itay Tiran), wird wie ein Möbelstück im Ehekrieg zwischen ihnen herumgeschoben.

Die anderen Figuren bilden die flüchtige Staffage. Tote auf Urlaub, die noch immer in der Einbildung befangen sind, es herrsche Gründerzeit (Wien um 1900) und Aufbruchsstimmung. Die von der touristischen Erschließung der Dolomiten reden wie von einer kolonialen Landnahme (Bibiana Beglau, sehr würdig und gefasst, in der Hosenrolle des "Doktor von Aigner").

Matt strahlender Mond

Über der Bühne steht kein Mond, sondern eine matt strahlende Kugellampe. Das Bild einer feststeckenden Bohrsonde beherrscht die Dekoration. Aus lauter Jux und Tollerei – und weil unter lauter Toten ohnehin alles schwer und leicht zugleich wiegt – vernichtet Hofreiter den sensiblen, nah am Wasser gebauten Fähnrich Otto (Felix Kammerer), indem er ihn im Duell einfach über den Haufen schießt.

Den Burschen hat Genia mehr aus mütterlicher denn aus erotischer Anwandlung in die Arme geschlossen. Unbarmherzig treibt das Hofreiter-Scheusal allen anderen die letzten knisternden Vitalitätsfunken aus. Mit seinem besten Feind, dem Bankier Natter (Branko Samarovski), verbindet ihn das naturkundliche Interesse am Scheitern der Menschen. Der Blick für das Zucken der Gliedmaßen, wenn Eros sie für Augenblicke belebt.

Am Schluss – das Vernichtungswerk ist getan – sitzt Hofreiter reglos im Sessel. Das Chaos ist aufgebraucht, es war die beste Zeit. Die Mikroben, Milben und Fadenwürmer können kommen und endlich ihre wohlverdiente Mahlzeit halten. Tosender Jubel für eine Schnitzler-Wohltat, nach Wien übersiedelt aus dem Ruhrgebiet. Sehr viel besser kann eine neue Spielzeit gar nicht beginnen. (Ronald Pohl, 3.9.2022)