Das Archivbild aus dem Jahr 1972 zeigt einen bewaffneten Polizeibeamten im Trainingsanzug dabei, wie er im Olympischen Dorf in München jenen Block sichert, in dem Terroristen die israelischen Geiseln festhalten.

Die ersten Septembertage im Jahr 1972 waren für Martin Textor wie ein einziges Sommerfest. Anstatt, wie gewohnt, in Berlin seinen Polizeidienst zu absolvieren, war er mit anderen jungen Kollegen nach München zu den Olympischen Spielen gereist. "Mein Chef hatte mich gefragt, ob ich Lust hätte, die bayerische Polizei zu unterstützen", erinnert sich der heute 77-Jährige. Er wollte und wurde in der bayerischen Hauptstadt für den Schutz der Ehrentribüne im Olympiastation eingeteilt.

Der palästinensische Terroranschlag bei den Olympischen Spielen 1972 in München hat den Berliner Polizisten Martin Textor nachhaltig geprägt.
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"Das war eine tolle Sache, es waren ja zunächst sehr heitere und fröhliche Spiele", sagt Textor. Denn das Konzept der Olympischen Spiele in München 1972 stand unter einem großen inoffiziellen Motto: Leichtigkeit. Deutschland wollte sich nach den Wettbewerben 1936 in Berlin, die im Schatten der nationalsozialistischen Propaganda gestanden waren, neu präsentieren.

Geiselnahme und Mord

Doch dann, am 5. September 1972, nahm die palästinensische Terrororganisation "Schwarzer September" elf Israelis als Geiseln. Das Attentat endete mit ihrer Ermordung, dabei starben auch fünf Geiselnehmer und ein deutscher Polizist.

"Es war furchtbar", sagt Textor. "Ich fühlte mich so hilflos und ohnmächtig wie noch nie zuvor." Das Gefühl hielt an, als Textor mit seinen Kollegen nach Berlin zurückkehrte. Dort, wie auch anderswo in Deutschland, war in Polizeikreisen schnell klar: So etwas darf nicht noch einmal vorkommen. Durch das Attentat in München war deutlich geworden, dass die überforderten Einsatzkräfte auf einen solchen Terroranschlag überhaupt nicht vorbereitet waren. Denn niemand hatte mit einem Angriff in dieser Dimension gerechnet. Es war der erste große Terroranschlag vor internationalem Hintergrund in Deutschland. Die Folge: Schon am 26. September 1972 rief die Bundespolizei die Antiterroreinheit "Grenzschutzgruppe 9" ins Leben (sie heißt heute "GSG 9 der Bundespolizei").

"Learning by doing"

Und auch auf den Ebenen der Länderpolizeien wollte man nachziehen und Vorkehrungen treffen. In Berlin arbeitete Textor in einem der vier Teams, die mit der Aufgabe betraut waren, diese Spezialeinsatzkräfte aufzubauen. "Es gab keine Vorgaben von oben, wir arbeiteten nach dem Motto learning by doing", erinnert er sich.

So vieles war neu. Textor suchte nach Kollegen mit unterschiedlichen sportlichen Qualifikationen: "Der eine konnte Judo, der andere boxen, beim Präzisionsschützenkommando hingegen brauchte man eine Bärenruhe." Binnen weniger Wochen stellte er sein Team zusammen, sorgte für die Vermittlung rechtlicher Grundlagen, Bewaffnung und die passenden Autos. Textor: "Wir merkten bald, dass ein VW zu klein war für die Ausrüstung." Und auch die richtige Schutzausrüstung wurde angeschafft. "In München", so Textor mit leichtem Schaudern, "trugen die Scharfschützen ja bunte Trainingsanzüge und alte Stahlhelme der Bundeswehr."

Auch andere Fehler sollten sich nicht wiederholen. In München hatte sogar der damalige Innenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP) mit den Geiselnehmern verhandelt. Textor: "Man schickt immer einen untergebenen Verhandler. Der vermittelt Geiselnehmern, dass er ihre Forderungen erst abklären muss." Eine weitere Lehre: "Nicht der Polizeipräsident, wie damals in München, leitet die Operation. Nicht der Dienstgrad ist entscheidend, sondern das Wissen um die Sache."

"Wir haben vom Desaster in München gelernt"

Ab 1980, nachdem Textor die Polizeiuniversität in Münster absolviert hatte, wurde er Leiter der Berliner Spezialeinheiten. Als Textor 2005 in Pension ging, war er beim Landeskriminalamt Berlin zuständig für alle Spezialeinheiten und führte eine Abteilung mit bis zu 1500 Mitarbeitern. 25 große Einsätze leitete er selbst, darunter warten einige spektakuläre: 1994 die Festnahme des legendären deutschen Kaufhauserpressers Arno Funke ("Dagobert"), 2002 die Befreiung von Geiseln in der irakischen Botschaft in Berlin und 2003 die Befreiung von Geiseln aus einem Linienbus der Berliner Verkehrsgesellschaft (BVG). Alle 25 Einsätze Textors gingen für die Opfer glimpflich aus.

"Wir haben vom Desaster in München gelernt", sagt der Beamte im Ruhestand heute und nennt dieses "prägend für seine gesamte polizeiliche Laufbahn". Eines aber will er sich auf keinen Fall anmaßen: Dass er damals, in jenen schwarzen Septembertagen 1972, als Polizist anders gehandelt hätte: "Ich hätte auch keine Vorschläge gehabt. Wir waren alle völlig überrascht. Erst im Nachhinein wussten wir es besser." (Birgit Baumann aus Berlin, 4.9.2022)