Österreichische Bildungspolitiker zeigen zu wenig Engagement und verschleppen dringliche Probleme im Schulsystem seit Jahrzehnten, meint Karl Heinz Gruber im Gastkommentar.

Lässt das neue Schuljahr beginnen, wie das vergangene geendet hat: Bildungsminister Martin Polaschek.
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"So wie der Mensch, biblisch gesprochen, "nicht vom Brot allein lebt", lebt ein Schulsystem, soziologisch gesprochen, nicht allein von Erlässen und ministeriellen Verordnungen. Der kürzlich verstorbene deutsche Soziologe und Psychoanalytiker Peter Fürstenau hat vor mehr als 50 Jahren dargelegt, dass Schulen, ebenso wie Spitäler und Universitäten, keine "klassischen" Bürokratien mit "Dienst nach Vorschrift" sind, sondern "Human relations"-Organisationen, für deren zufriedenstellendes Funktionieren professionelles Engagement, gemeinsam anerkannte Werte, kollegiale Solidarität und charismatische Leadership von essenzieller Bedeutung sind. Wann hat man das letzte Mal von einem österreichischen Bildungspolitiker etwas Inspirierendes, Motivierendes, kollektive Energie Auslösendes über die Institution Schule gehört?

"Während sonst jede schulische Petitesse obrigkeitsstaatlich genehmigt werden muss, delegiert das Ministerium die Verantwortung für einen sicheren, medizinisch begründeten, zumutbaren Schulbetrieb an den einzelnen Standort."

Diese Woche beginnt ein neues Schuljahr. Bildungsminister Martin Polaschek hat aus diesem Anlass vor einigen Tagen eine seiner seltenen Pressekonferenzen gehalten. Wer erwartet hat, dass er die österreichischen Lehrerinnen und Lehrer nach zwei Jahren Corona-Turbulenzen mit einem vor Witz, Kreativität und Zuversicht sprühenden Motivationsbooster in Aufbruchsstimmung versetzen würde, wurde herb enttäuscht. Das Bildungsministerium scheint sich damit zu begnügen, als Außenstelle des überforderten Gesundheitsministeriums zu fungieren. Aber: Während sonst jede schulische Petitesse obrigkeitsstaatlich genehmigt werden muss, delegiert das Ministerium die Verantwortung für einen sicheren, medizinisch begründeten, zumutbaren Schulbetrieb an den einzelnen Standort. Schulen sollen sich, "wie alle anderen Lebensbereiche", nach dem neuen politischen Schlüsselbegriff "Eigenverantwortung" ihr eigenes Sicherheitskonzept basteln. Was die "Experten" am Minoritenplatz nicht schaffen, wird den Kollegien in den Volksschulen im Seewinkel und den Mittelschulen im Salzkammergut zugemutet. Echte Schulautonomie sieht anders aus.

Verschleppte Probleme

Corona hat die Schulen zur Revision etablierter schulischer Routinen (Hausaufgaben, Leistungsbeurteilung, Gruppenunterricht) gezwungen, was viele von ihnen mit pädagogischem Augenmaß, Flexibilität und Improvisieren gemeistert haben. Corona hat jedoch die Bildungspolitik und die Schulforschung nicht vor der Beantwortung fundamentaler Fragen nach der Zukunftsfähigkeit des österreichischen Schulsystems befreit, ganz im Gegenteil. Von den zum Teil seit Jahrzehnten verschleppten und verdrängten Problemen, etwa der Notwendigkeit von mindestens zwei Jahren hochqualitativer Vorschulbildung, den schädlichen Nebenwirkungen der AHS-Auslese mit zehn Jahren und der pädagogischen Sinnlosigkeit des Sitzenbleibens, sind etliche im Laufe der Pandemie drastisch sichtbar geworden sowie einige neue dazugekommen. Sollte das Bildungsministerium eine "Taskforce" einrichten – man wagt das Wort "Schulreformkommission" ja kaum mehr auszusprechen –, hätte sie sich vordringlich drei Problemfeldern zuzuwenden:

Erstens dem Aufbau einer belastbaren Partnerschaft von Schule und Elternhaus, um die sich vergrößernde Ungleichheit der Bildungschancen von Kindern aus schulnahen und schulfernen Familien zu verringern; zweitens der Neugliederung der Lehrpläne aller Fächer in einen generellen, unabdingbaren "Kern" und die subjektive Erweiterung und Vertiefung; sowie drittens der Frage nach einer angemessenen Balance und Arbeitsteilung von sozial-interaktivem Präsenzunterricht und der individualisierten Nutzung von Computer und Internet als "learning tools" (wie es das möglicherweise irgendwann wieder notwendige "distance learning" erfordert).

Eine Nachhilfestunde

Im Hinblick auf die Dürftigkeit der bisherigen pädagogischen Aufarbeitung der Corona-Erfahrungen muss man allerdings mit Wolf Biermann fragen: "Das kann doch nicht alles gewesen sein?" Wo könnte sich Minister Polaschek Inspirationen für einen bildungspolitischen Booster, eine State of the Nation’s Education Address holen, falls er sich dazu durchringen sollte?

Zur Einstimmung sollte er Erich Kästners Ansprache zum Schulbeginn lesen, die liebevoll-einfühlsam darlegt, was eine humane Schule ausmacht. Ja, fast 100 Jahre alt, aber witzig und schlagfertig und kein bisschen "überholt".

Schönster Beruf

Und dann könnte er sich die TV-Dokumentation über die Entwicklung des französischen und des deutschen Bildungssystems von 1945 bis 2015 vornehmen, die vor kurzem auf Arte zu sehen war. Dort würde er auf den europäischen Bildungs- und Kulturminister schlechthin stoßen: Jack Lang, mit seinen 83 Jahren nach wie vor ein Feuerwerk von pädagogischen Ideen und wohlüberlegten Reformvorschlägen; unter seinen zahlreichen Büchern ist Une école élitaire pour tous, Eliteschulen für alle, das raffinierteste.

Als Ergänzung dieser Nachhilfestunde in französischer Bildungspolitik könnte sich der Herr Minister den grandiosen Schule-Lehrer-Film Le plus beau métier du monde, also der schönste Beruf der Welt, anschauen, in dem Gérard Depardieu einen Lehrer spielt, der nach einer Affäre mit einer Kollegin an einem feinen Provinz-Gymnasium an eine raue multikulturelle Gesamtschule in einer Pariser Problem-Vorstadt flieht (wo er, nur so nebenbei, wieder "etwas" mit einer Kollegin beginnt). Dieser aus der Vor-Covid-Zeit stammende Film gibt einen hervorragenden Einblick in die große Bandbreite der Herausforderungen, vor denen Schulen nicht nur in Frankreich heutzutage stehen.

Mühen der Ebene

Schließlich blieben Herrn Minister Polaschek "die Mühen der Ebene" der internationalen Bildungsforschung nicht erspart. Zwei Publikationen sollten fürs Erste reichen: Die Eight Lessons and Visions for the Future von HundrED, einem auf internationale Schulentwicklungen spezialisierten finnischen Thinktank, und die Global Lessons der OECD, in denen die Covid-Erfahrungen zahlreicher Schulsysteme aufgearbeitet werden.

Alsdann, Herr Minister, das österreichische Bildungssystem wartet auf Ihren Booster! (Karl Heinz Gruber, 5.9.2022)