Vor kurzem hörte ich Menschen zu, die über Sex sprachen. Sie erzählten von schönen körperlichen Begegnungen und lustvollen Beziehungen, aber auch von persönlichen Kränkungen und Leid. Ihre Geschichten sind Alltagsgeschichten, weil Sexualität eben zu unserem Alltag gehört, und dennoch nicht, weil wir eigentlich selten in unserer ganzen Verwundbarkeit ehrlich über sie sprechen. Den beiden Schweizer Künstlern Mats Staub und Anna Papst ist es gelungen, einen vertrauensvollen Rahmen zu schaffen, wo dies möglich wurde. Ich war zu Gast in ihrem Audio-Stück Intime Revolution, das im Rahmen eines Theaterfestivals aufgeführt wurde.

Obwohl Sexualität zu unserem Alltag, gehört, sprechen wir eigentlich selten in unserer ganzen Verwundbarkeit ehrlich über sie.
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Die beiden hatten Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts zu ihrer sexuellen Biografie befragt. Die anonymisierten Texte wurden dann durch Schauspielerinnen und Schauspieler auf Band gesprochen. Wir Besucher lauschten einzelnen Erzählungen mit dem Kopfhörer. Ich verließ die Aufführung mit der Frage: Was wäre, wenn es uns gelänge, offen über unsere Sexualität zu sprechen, über unsere Körper und über die vielen Formen, wie Menschen Lust miteinander und allein erleben können?

Wir nennen uns eine "aufgeklärte" Gesellschaft. Doch die Sprache bleibt undifferenziert, wenn es um Sexualität geht. Unser kollektiver Wortschatz ist zum einen beschränkt derb und grob. Er gründet auf der klassisch männlichen Vorstellung, dass Sex vorrangig aus Penetration besteht. Wir können den Geschmack eines Rotweins besser beschreiben als das, was zärtliche Berührung in uns auslöst.

Sexuelle Begegnungen scheinen über Plattformen wie Tinder immer und überall möglich. Doch viele Nutzerinnen und Nutzer leiden unter dem Druck, sich permanent dem Urteil anderer zu stellen. Rein auf seine Körperlichkeit reduziert zu werden verursacht Stress. Im digitalen Raum macht sich kollektive Erschöpfung breit.

Ist die Debatte um fluide Genderidentitäten vielleicht auch nur ein Platzhalter, weil ein offener Zugang zu Sexualität fehlt? Müssen wir deshalb sexuelle Orientierung technisch bis ins Letzte ausdeklinieren und labeln? Und natürlich verkauft sich Sex, egal wie banal die Nachricht auch sein mag. Vergangenen Freitag titelte die Boulevardzeitung Heute eine "Sex-Affäre um Meerschweinchen".

Wir leben in einer übersexualisierten Gesellschaft, aber unser Zugang zu Lust, Körperlichkeit und Intimität wird dadurch nicht einfacher. Überwinden wir unsere Sprachlosigkeit, reden wir über Sex in seiner ganzen Vielfalt! Noch fehlen uns die Worte.

Meine Partnerin und ich haben eine erfüllte Sexualbeziehung, und dennoch sprechen wir selten darüber. Das ist kein bewusstes Schweigen oder Scham, sondern kommt aus der Haltung, dass wir ja über das, was gut läuft, nicht zu reden brauchen. Aber warum nicht über Sexualität gerade auch dann kommunizieren, wenn es gutgeht? Damit können wir noch besser verstehen lernen, was unser Gegenüber wahrnimmt und ersehnt. Das bedeutet keine Entzauberung. Im Gegenteil, Schweigen tabuisiert und – da hallt noch eine Stimme aus dem Audio-Stück Intime Revolution nach: "Tabuisierung macht immer einen tauben Raum." (Philippe Narval, 4.9.2022)