Im Gastblog ruft Europapolitiker Hannes Swoboda im Kontext des Ukraine-Krieges zu einem Austausch mit jenen auf, die zum Dialog bereit sind.

Vor hundert Jahren erschien das bekannteste Werk des irischen Autors James Joyce. Zwar hat er seinen "Ulysses" schon 1921 fertiggestellt, aber es war schwierig, jemand zu finden, der sich traute, das Werk zu veröffentlichen. Einige Vorabdrucke sorgten für große Aufregung. Dem Buch und seinem Autor wurde Pornografie und Blasphemie vorgeworfen. Und auch die moderne Sprache bzw. die ausführliche Beschreibung des Alltäglichen wurde kritisiert.

Die Gefahren des Nationalismus

Viel wichtiger und interessanter finde ich allerdings die politischen und vor allem gesellschaftspolitischen Auffassungen, die durch den Text durchleuchten. James Joyce ist Ire und schreibt seinen Roman auch vor dem Hintergrund des irischen Kampfes gegen den britischen Kolonialherrn. Joyce kritisiert den britischen Kolonialismus, allerdings auch den fanatischen irischen Nationalismus in Verbindung mit der Dominanz der katholischen Kirche. Er vertritt eine moderne, pragmatische und nicht nationalistische Auffassung des Staates, wenn er seine zentrale Figur Leopold Bloom sagen lässt: "Ein Staat ist, wo dieselben Leute am selben Ort leben." Im Übrigen ist Bloom ungarisch-jüdischer Herkunft, und damit wird auch die kosmopolitische und multikulturelle Struktur moderner Gesellschaften unterstrichen. James Joyce lebte auch für viele Jahre im multikulturellen Triest.

Was hat das alles mit der Ukraine zu tun? Auch wenn man die Situation Irlands am Beginn des 20. Jahrhunderts und der Ukraine heute nicht gleichsetzen kann, befindet sich auch die Ukraine in einem antikolonialistischen Kampf. Russland hat eine starke koloniale Vergangenheit. Schon innerhalb der Sowjetunion hat Russland den Ausschlag gegeben. Selbst der Georgier Stalin hat keinen Wert auf seine Herkunft gelegt, sondern einen russischen Imperialismus vertreten. Und Putin hat den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums als die "größte Katastrophe des 20. Jahrhundert" bezeichnet. Und jetzt versucht er, durch den Krieg gegen die Ukraine zumindest einen Teil des Imperiums wiederherzustellen. Es handelt sich also klar um einen Kolonialkrieg.

Gerade innerhalb der EU sollte nach Wegen gesucht werden, all jene Russen und Russinnen zu unterstützten, die den Irrweg des Putin'schen Kolonialismus erkennen.
Foto: Imago/NurPhoto/Artur Widak

Es ist verständlich, dass sich die Ukraine gegen diese Aggression wehrt, und es ist gut, dass sich der Westen auf der Seite der Ukraine engagiert – auch durch Waffenlieferungen, denn ohne Waffen kann sich die Ukraine nicht gegen den russischen Angriff wehren. Und ich weiß, dass in Zeiten des Krieges differenziertes Denken unangebracht scheint. Dennoch müssen wir über den Krieg hinausdenken. Was bedeutet der Krieg und die Kriegsstimmung für die Zukunft unserer europäischen Friedensordnung? Das gemeinsame Europa wurde ja auf den Prinzipien der Verständigung und des gegenseitigen Respekts und zum Zweck des Friedens aufgebaut.

Wer ist der Feind?

Der österreichische Philosoph Konrad Paul Liessmann hat kürzlich in einem Kommentar in der "Neuer Zürcher Zeitung" gemeint: "Der Ukraine-Krieg hat die Europäer aus ihren Blütenträumen von einem neuen ewigen Zeitalter von Vernunft, Dialog und Ausgleich herausgerissen." Aber er geht noch weiter, wenn er meint, "dass es keine Politik, die diesen Namen verdient, gibt, ohne zwischen Freund und Feind zu unterscheiden". Und "ernsthaftes politisches Handeln erfordert, in potenziell tödlichen Gegnerschaften zu denken".

Sicher drückt Liessmann damit aus, was viele in der Ukraine und darüber hinaus im Westen denken. Aber wer ist nun der Feind? Im Krieg scheint das klar zu sein. Die russische Armee und ihre politischen und militärischen Befehlshaber sind für die Ukrainer und Ukrainerinnen der Feind. Aber sind "die Russen" generell der Feind? Sollte man, wie es derzeit einige fordern, Russen und Russinnen in der EU keine Touristenvisa mehr geben? Ist es akzeptabel, wenn die russische Sprache grundsätzlich als Sprache der Kolonisatoren bezeichnet wird und zurückgedrängt bis verboten werden soll? Und soll das in der Folge ebenfalls für Literatur und Musik gelten? Heißt Dekolonisierung, alles, was mit dem Kolonialherren verbunden war und ist, abzustreifen?

Olufemi Taiwo beschäftigt sich in seinem Buch "Against Decolonization: Taking African Agency Seriously" ausführlich mit den verschiedenen Konzepten der Dekolonisierung – wenn auch am Beispiel Afrikas. Dazu meint er: "Es ist wenig fruchtbar, den Umfang der Dekolonisierung über den ursprünglichen Inhalt hinaus auszudehnen, und der bedeutet, aus der Kolonie eine selbstverwaltete Einheit zu machen, die über die politische und wirtschaftliche Ausrichtung unabhängig entscheidet." Nun geht es ihm auch darum, die universellen Werte – die in den westlichen Demokratien auch verankert sind – nicht einer umfassenden Dekolonisierung zu opfern. Sicher vertritt das heutige Russland nicht diese universellen Werte, und man kann auch bei russischen Autoren wie zum Beispiel Joseph Brodsky und Alexander Solschenizyn sehen, wie sie Kritik am sowjetischen System mit kolonialistischen Vorstellungen verbinden.

Insofern haben B. Kassymbekova und A. Werberger recht, wenn sie in der "Frankfurter Allgemeine Zeitung" unter dem Titel "Herrschervolk in den Köpfen" diesbezüglich meinen: "Die Entstalinisierung des Denkens bleibt ohne Dekolonisierung unvollendet." Und da ist noch viel in Russland zu tun, noch dazu, wo heute sogar ein gegenteiliger Prozess von Putin und Co vorangetrieben wird. Und dennoch wehre ich mich dagegen, ein ganzes Volk und seine Kultur unter einen Generalverdacht zu stellen. So schwierig es ist, wir müssen gerade innerhalb der EU nach Wegen suchen, all jene Russen und Russinnen zu unterstützten, die den Irrweg des Putin'schen Kolonialismus erkennen. Das gilt auch für jene Staaten, in denen eine größere Zahl von russischstämmigen und -sprachigen Menschen leben.

Die "NZZ" hat kürzlich in einem Kommentar unter dem Titel "Bildersturm im Baltikum ist schlechte Geschichtspolitik" gemeint: "Der Krieg löst im Baltikum einen Denkmalsturz aus, der in mancher Hinsicht dem antikolonialen Bildersturm gleicht, der den Westen in den letzten Jahren ergriffen hat. Der Vergleich drängt sich auch deshalb auf, weil auch die Balten die Besetzung durch die Sowjetunion als koloniale Unterdrückung betrachten." Aber bei allem Verständnis für Maßnahmen der Dekolonisierung in den baltischen Staaten kann ich nur den Schlussfolgerungen der "NZZ" zustimmen: "Die Politik der Tabula rasa ist das beste Mittel, um einen gemeinsamen Lernprozess zu verhindern." Bei all meinen Besuchen in den baltischen Staaten als EU-Abgeordneter habe ich immer dazu aufgerufen, die Dekolonisierung gegenüber Russland mit aktiver Integration der russischsprachigen Bevölkerung zu verbinden – wozu Mehrheit und Minderheit beitragen müssen.

Hass: ein schlechter Ratgeber

Man bekommt ein schlechtes Gewissen, gibt man "wohlfeile" Ratschläge jenen Menschen, denen ein Krieg aufgezwungen wurde. Aber auch in kriegerischen Zeiten braucht es Werte und Grundsätze, an die man sich langfristig halten kann. James Joyce mit seinem "Ulysses", aber auch viele neue russische und ukrainische Autorinnen und Autoren können uns helfen, eine komplexere Sicht der Dinge zu bekommen – und wenn nicht schon Liebe, dann zumindest Dialogbereitschaft, statt Hass auszudrücken. Nicht gegenüber Verbrechern, aber gegenüber solchen, die zum Dialog bereit sind. Und übrigens, es stimmt, was Ilija Trojanow in seiner Rede bei der Eröffnung der diesjährigen Salzburger Festspiele gemeint hat: "Wer aus Hass schreibt, um eine Rechnung zu begleichen, geht ästhetisch bankrott." Und ich würde hinzufügen: auch moralisch und politisch. (Hannes Swoboda, 7.9.2022)