Judith Holofernes stand als Sängerin der Popband Wir sind Helden lange für einen neuen Frauentyp in der Musik: selbstbewusst und aufmüpfig. Wie anstrengend dieser Job auch teilweise war, hat sie nun in ihren Memoiren aufgeschrieben, Die Träume anderer Leute. Dem Schreiben will sich die 45-jährige Künstlerin auch weiterhin widmen, erzählt sie in ihrer Arbeitswohnung im Berliner Stadtteil Neukölln.

Früher stürmte Judith Holofernes die Charts. Ob sie mit ihrem Buch "Die Träume anderer Leute" auch die Bestsellerlisten anführen wird?
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STANDARD: Frau Holofernes, über Ihre Zeit als Musikerin haben Sie nun ein Buch geschrieben. Darin berichten Sie von körperlichen Schmerzen auf der Bühne, wie Sie sich für Fotos runtergehungert und letztlich gar Ihre Stimme verloren haben. Geht Kreativität mit Krankheit einher?

Holofernes: Als wir 2001 mit den Helden angefangen haben, war ich tollkühn stolz darauf, wie verhältnismäßig wenig krank ich war. Meine Konstitution war jedoch definitiv nicht für den Beruf gemacht. Das war schlimm, weil die Band mein großer Teenagertraum war. Doch ich konnte lange nicht einsehen, dass ich mich zugrunde richte. Man braucht eine robuste Natur, um diesen Lebenswandel zu verkraften. Touren haben sich wie ständiges Camping angefühlt, Schlafen im Bus, Aufwachen an Raststätten, Stillen hinter der Bühne. Das war weit unter dem Standard, den viele unserer Freunde erduldet hätten.

STANDARD: Trotzdem haben Sie diesen Stress auf sich genommen.

Holofernes: Ich hatte ständig diese Bilder von Popstars im Kopf, die wie im Bootcamp ihre Körper stählen. Mir war bewusst, dass das mit mir nichts zu tun hat, aber es vermischt sich trotzdem, wenn du bei der Plattenfirma als Major Act gehandelt wirst. Auf der einen Seite diese Leistungssportlerinnen wie Beyoncé und Madonna, die beinahe eine soldatische Disziplin haben, auf der anderen gibt es krepierende Rockstars mit Drogensucht. Ich wusste nicht, wo ich mich verorten soll. Erst vor kurzem habe ich begriffen, dass ich in einem Beruf gearbeitet habe, wo niemand davon ausgeht, dass du das jahrzehntelang machst, sondern höchstens drei Jahre. Dass du dich in dieser Zeit total verheizt und dann verschwindest.

STANDARD: Sie schreiben im Buch: "Ich möchte den Karriereaspekt des Judith-Holofernes-Seins komplett aufgeben." Woran haben Sie sich aufgerieben?

Holofernes: Das ist ein grundsätzlicher Widerspruch, so alt wie die Popmusik. Künstler:innen haben in den allermeisten Fällen sehr eigene Ideen, wollen nur das machen, was ihnen gerade einfällt. Und dann kommt ein Manager und meint: Es wäre jetzt ganz wichtig, dass du eine neue Radiosingle schreibst.

STANDARD: Das meinen Sie, wenn Sie behaupten, es machte viel Arbeit, diese Judith Holofernes zu sein?

Holofernes: Kennen Sie Die letzten ihrer Art von Douglas Adams? In dem Buch beschreibt er aussterbende Tierarten. Und darin kommt ein Vogel vor, der anstatt sich auf sein Nest zu setzen, eine Art Nestofen baut, der die Eier für ihn heizt. Der Vogel verbringt die Brutsaison damit, um diesen Ofen herum zu fliegen und kleine Zweige reinzustecken. So habe ich mich gefühlt: Ich flieg die ganze Zeit rum und stecke Zweige in mein Nest, anstatt selbst darauf zu sitzen.

Die Lust aufs Singen kehrt nach einer längeren Pause zurück, erzählt Judith Holofernes – aber nur als halböffentliches Hobby, bitte.
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STANDARD: Im November 2019 haben Sie einen kryptischen Brief geschrieben, in dem Sie Ihren Rücktritt als Musikerin verkündet haben, mit der Einschränkung, "unter gleichem Namen jemand anderes" sein zu wollen. Was sollte das?

Holofernes: Mir war völlig klar, dass der Schritt symbolisch ist. Aber ich habe diesen Abschied gebraucht. Weil wir das mit den Helden nie hatten. Damals war der Schluss eine Art Notbremse. Ich hatte körperliche Beschwerden, stand kurz vor einem Burnout, war fertig mit den Nerven. Es war völlig eindeutig, dass ich aufhören muss. Doch wir haben das nie richtig kommuniziert.

STANDARD: 2011 hat sich die Band einfach auf unbestimmte Zeit verabschiedet.

Holofernes: Für mich fühlte sich das falsch an, ich brauchte einen eindeutigen Schnitt. Das Management sagte: Wenn ihr drei Jahre später wieder spielt, hat es den Beigeschmack von diesen Cash-in-Touren. Deshalb haben wir uns nie offiziell aufgelöst. Zwei Jahre später hat einer auf Facebook geschrieben: "Was ist jetzt mit euch? Im Prinzip ist es so, als hättet ihr uns vor dem Rewe im Auto sitzen lassen und vergessen, das Fenster runterzukurbeln." Wenn mich Leute heute noch nach unserer Band fragen, fühle ich mich schuldig.

STANDARD: Wie oft geschieht das noch?

Holofernes: Vorgestern gerade passiert. Mit dem Buch habe ich einen symbolischen Schlussstrich gezogen, es tut nicht mehr weh. Ich sehe nun, was für eine tolle Band wir waren. Vielen Dank, dass ich das wieder wertschätzen kann. Vielleicht spielen wir zusammen auf dem 75. Geburtstag von jemandem, wenn wir 65 sind und keiner mehr erwartet, wir müssten so klingen wie früher. Vielleicht werde ich sogar eines Tages wieder Lieder machen, aber nicht nach den Regeln der Linearität in der Musikindustrie.

STANDARD: Sprich: Promotion, Single, Radio, Album, Tour.

Holofernes: Das habe ich auch vorher schon verweigert und lieber mal einen Band mit Tiergedichten herausgegeben. Es gab Leute, die sich deswegen die Haare gerauft haben. Es war eine Befreiung zu sagen: "Ah, ich verstehe euren Grundgedanken, ihr denkt, ich arbeite immer noch an der Karriere. Tue ich nicht. Ich will Sachen machen, die nur für mich funktionieren." Deshalb habe ich mich für Patreon entschieden, die Crowdfunding-Plattform. Wer mich unterstützen möchte, egal, ob bei Gedichten, Büchern oder doch Musik, kann das dort tun.

STANDARD: Von drei bis 100 Euro können Fans verschiedene Abo-Modelle wählen. Wofür entscheiden sich die meisten?

Holofernes: Für fünf Euro pro Monat. Davon kann ich nichts Teures machen, aber es ist ein Grundstock, von dem ich Arbeitswohnung und Assistentin bezahle. Patreon puffert meine Schnapsideen ab, ich poste Texte auf der Plattform und erhalte Feedback von meinen Unterstützern. Mein Modell funktioniert allerdings als Lebenskonzept mit Familie nur, weil ich diesen Sockel mit den Songs von Wir sind Helden und meinen Solo-Alben habe und diese Tantiemen höher als meine Patreon-Einnahmen sind.

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STANDARD: Nach der Helden-Zeit mussten Sie sich wieder einen Alltag antrainieren. Konnten Sie einfach in die Bahn steigen?

Holofernes: Anfangs bin ich nur Rad gefahren, weil ich in der U-Bahn viel erkannt wurde. Kreuzberg, wo wir wohnen, empfand ich als unseren Unterschlupf. Da sind die Leute so abgebrüht, dass ich monatelang vergessen konnte, dass ich in der Öffentlichkeit stehe. Ich habe eine Berufsdeformation: Ich hasse Partys. Alle meine Freundinnen verstehen inzwischen, dass ich nicht auf ihre Feiern komme, auf denen 25 Leute in einer Wohnung herumhängen. Weil ich dort noch immer exponiert bin.

STANDARD: Sie sind immer noch Wir sind Helden.

Holofernes: Wenn ich irgendwo auftauche, wo mich nicht alle Leute kennen, wird sich meistens eine Person neben mich setzen und mich den ganzen Abend fragen, wie das damals alles war. Das ist immer eine Form von Performance und nicht wirklich Freizeit.

STANDARD: Sie haben nach 2013 zwei Solo-Alben aufgenommen, die weniger erfolgreich waren. Schnell haben Sie gemerkt, dass es für Sie als Musikerin jenseits der 30 schwierig wurde.

Holofernes: Popstar und Mutter zu sein, das gilt als unglaublich uncool. Die Klischees greifen gnadenlos zu. Ich habe ein Lied geschrieben, ein eindeutig feministisches Krawallstück, das allerdings die Zeilen "Piep, piep, piep, komm, hab mich lieb, lieb, lieb" hatte. Ein prominenter Kritiker hat sich darauf eingeschossen, dass solche Worte ein Zeichen meiner Infantilität seien und natürlich Hand in Hand mit dem Muttersein gehen. Kein erwachsener Mensch, der nicht den ganzen Tag "My Little Pony" spielt, würde das schließlich machen. Das war so blöd!

STANDARD: Außerdem quälten Sie sich mit Ihrem Erscheinungsbild.

Holofernes: In meiner Aufmüpfigkeit wurde ich die ganze Zeit angeguckt und bewertet. Da musst du sehr drauf scheißen, damit es nicht wehtut. Dieser Schlankheits- und Jugendwahn hat gar nichts mit Eitelkeit zu tun – das ist eigentlich das falsche Feld, um das zu betrachten –, sondern es geht um Sicherheit vor Anfeindungen. Auf einem bestimmten Level solchen Körperidealen zu entsprechen ist ein Schutzanzug vor Häme und Ehrlichkeit.

STANDARD: Sie wollten nicht aus der Masse herausstechen ...

Holofernes: ... und mir nicht die Ablehnungen einfangen, wenn man nicht dem Image entspricht. Es gibt im Pop keine Frauen, die Durchschnitt sind, ein bisschen rundlich, Mitte 40. Lebenswerk und graue Eminenz geht wieder, das ist schick. Dieses Dazwischen fehlt auch hier: eine real existierende Frau, die 20 Kilo zugenommen hat, erste Falten bekommt, weich um die Knie wird.

STANDARD: Also die Menschen in der Easyjet-Schlange?

Holofernes: Genau. Ich habe gerade eine tolle Technik in einem Podcast gelernt. Darin hieß es, gewöhnt euch an, in einer Menge jene Leute rauszupicken, die so alt sind wie ihr – und vergleicht euch nicht mit Leuten, die 20 Jahre jünger sind. Das tun wir nämlich alle, weil wir denken, wir seien unsterblich.

Judith Holofernes, "Die Träume anderer Leute", Kiepenheuer & Witsch, 416 Seiten, 24 Euro. www.kiwi-verlag.de
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STANDARD: Seit Sie sich von der Musikindustrie verabschiedet haben, fühlen Sie sich wohler mit Ihrem Körper?

Holofernes: Mit allem in meinem Leben. Das war lange ein Konflikt in mir: Dass ich diese Pop-Seite mag, auf dem Autodach in Spandex zu tanzen, aber eben genauso gut hätte Schriftstellerin werden können, die einfach zu Hause sitzt. Das tue ich jetzt, mir fehlt einfach nichts. Ich kann mir eingestehen, dass ich traurig bin, weil ich nicht mehr singen kann. Vor kurzem habe ich eine Sprachtherapie begonnen. Langsam wünsche ich mir, wieder zu singen. Musik als halb öffentliches Hobby kann ich mir vorstellen, sie soll jedoch nicht die Bezugsgröße meines Lebens sein.

STANDARD: Dabei hatten Sie bereits mit dreizehn Jahren den Wunsch, Rockstar zu werden. Wie würden Sie reagieren, würden Ihre beiden Kinder das nun sagen?

Holofernes: Das ist eine schwierige Frage für mich. Ich habe sie noch nicht endgültig gelöst. Grundsätzlich unterstütze ich Kreativität und Performance. Das heißt, wenn das passieren sollte, bin ich selber schuld. Ich würde niemandem raten, diesen Beruf nicht auszuüben. Aber sucht euch einen Day-Job, was Sicheres, um eine gewisse Freiheit in der Kunst zu bewahren, eine Balance hinzubekommen. Ich kenne Musiker, die Regale einräumen und total happy sind. Das ist nicht immer schlecht. Herman Melville hat auch bei der Post gearbeitet und Moby Dick geschrieben. (RONDO, Ulf Lippitz, 12.9.2022)