Es gibt was zu hören! Wenn es Gott gäbe, würde er singen wie Timothy Fallon den Prinz Ramiro.

Sie hat das Sendungsbewusstsein einer Erweckungspredigerin und die unkaputtbare Bestlaune einer Ferienklubanimateurin. Keine Frage: Lotte de Beer ist ein Wesen von einem anderen Stern. Mit viel Elan und noch mehr Ideen ist die quirlige Niederländerin in das Direktionsbüro der Volksoper eingezogen und hat ihren Arbeitsplatz außenrum mal gleich babyrosa anstreichen lassen. Warum? Wahrscheinlich, weil es gute Laune macht. Beim Anblick der Fassade spielt der innere Wurlitzer ungefragt Lucilectrics Weil ich ein Mädchen bin. Oje, das kriegt man jetzt nicht mehr aus dem Ohr.

Kriegt man doch. Denn am Sonntagvormittag gibt’s ja innendrin im Haus zur Ablenkung Hits aus Kaisers Zeiten. Auf die Premiere von Millöckers Die Dubarry am Samstagabend folgen nun gleich vier Operetten auf einen Streich: Das ist nicht von Pappe! Ist es aber doch: Der wundervolle Steef de Jong führt Orpheus in der Unterwelt, Die Fledermaus, den Walzertraum und den Zarewitsch in mobilen Pappkulissen und mit Pappkostümen auf.

Anita Götz und Jason Kim helfen dem Niederländer bei seinem "Papp-Konzert" singend. Das Volksopernorchester bezaubert unter der Leitung von Gerrit Prießnitz Klein und Groß. Im Schnelldurchlauf und mit 100 witzigen Überraschungen präsentiert De Jong die Werke und beweist dabei mehr Charme, als den Wienern je nachgesagt wurde. Wie hätte Rudi Carrell die Sache resümiert? "Toll!"

Bim vorm Haus

Die gute alte Volksoper: Sie hat es eigentlich nicht leicht. Die Staatsoper hat im Saal die Touristen, auf der Bühne die Weltstars und im Graben die Wiener Philharmoniker. Das Theater an der Wien hat die üppigen Subventionen der Stadt bei verhältnismäßig niedrigen Personalkosten (weder Ensemble noch Chor und Orchester sind fix). Und die Volksoper hat die Bim, die am Haus vorbeirattert und es zumindest äußerlich zum Vibrieren bringt.

Robert Meyer, De Beers Vorgänger ab 2007, hat seine Sache angesichts dessen eh gut gemacht: Das Repertoire wurde gestrafft und mit dem klassischen Musical ein gewinnender Schwerpunkt gesetzt. Zusammen mit seinem prominenten Chefdramaturgen, dem Hofratswitwenbetörer Christoph Wagner-Trenkwitz, band der ehemalige Burgschauspieler die ältere Klientel ans Haus, kümmerte sich aber auch mit aufwendigen Eigenproduktionen (wie Antonia und der Reißteufel oder Vivaldi) um den Publikumsnachwuchs.

27.000 Kinder

Durchschnittlich fanden so 27.000 Kinder und Jugendliche pro Saison den Weg in die Volksoper. Die Verkäufe der Abonnements und Zyklen gingen trotzdem von 6840 in der Spielzeit 2010/11 auf 5817 im Jahr 2016 zurück. Durch die pandemiebedingten Schließungen sank die Zahl weiter auf 3615 zum Ende der Ära Meyer.

Wenn man jedoch das Vergnügen hatte, am frühen Sonntagabend bei der Wiederaufnahme von Achim Freyers 25 Jahre alter Inszenierung der Cenerentola dabei zu sein, dann prognostiziert man aus dem Bauch heraus: Mit den Verkaufszahlen an der Volksoper dürfte es bald wieder nach oben gehen – wenn auch die anderen Produktionen ein ähnliches Niveau erreichen wie die komische Rossini-Oper. Denn die war in vielen Belangen schlicht Weltklasse.

Da braucht das Haus am Währinger Gürtel nicht einmal den Vergleich mit Cecilia Bartolis jüngstem Rossini-Gastspiel an der Staatsoper zu scheuen.

Eine Stimme wie ein Laser

Der Prinz Ramiro von Timothy Fallon zum Beispiel. Wenn es Gott gäbe und dieser eine Stimme hätte, würde er genau so singen: wie ein gebündelter Lichtstrahl, mit quecksilberartiger Beweglichkeit, höhensicher, kraftstrotzend und nuanciert gleichermaßen. Und dieses Genie ist sogar fix im Ensemble!

Ähnlich umwerfend: Misha Kiria als Don Magnifico, der böse Stiefpapa Aschenputtels (bis auf die Spitzentöne gewinnend: Wallis Giunta). Gastdirigent Carlo Goldstein drillt alle Beteiligten zu mathematischer Exaktheit. Von der skurrilen Poesie der Freyer-Inszenierung, die von Dorike van Genderen detailgenau neu einstudiert wurde, wird man sowieso von der ersten bis zur letzten Minute bezaubert, allen voran von Lauren Urquhart und Stephanie Maitland als Clorinda und Tisbe.

Wer nach dieser Rossini-Mania um zehn Uhr abends im oberen Pausenfoyer bei Omer Meir Wellber & Friends etwas runterkommen wollte, war fehl am Platz: Der junge Musikchef der Volksoper erzählte mit Gästen (Tenor Mert Süngü und Klarinettist Anton Dressler) und mit Mitgliedern des Orchesters auf intensive Weise Musikgeschichten aus dem osteuropäischen und südamerikanischen Raum.

Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne? Dem von Lotte de Beer an der Volksoper auf jeden Fall. (Stefan Ender, 5.9.2022)