Megan Auer, die die künstlerische Fotografie als Sprachrohr für Aufklärung und Aktivismus sieht, hat sich mit nachhaltigen landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt.
Foto: Megan Auer

Zwar befindet sich die Brotfabrik mit ihren Kunst- und Kulturinstitutionen wie dem Ostlicht oder der Galerie Hilger Next nur einen Steinwurf entfernt – im Kreta-Viertel, einem Grätzel im hintersten zehnten Bezirk, merkt man von Matcha-Latte-Trinkern und Jutebeutel-Trägerinnen aber noch nichts. Allzu lang wird es jetzt aber nicht mehr dauern. Wer sich mit Gentrifizierung beschäftigt, weiß, dass es immer zuerst die Kunst- und Kulturschaffenden der Off-Szene sind, die solche Orte in der Stadt für sich entdecken – vor allem, weil die Mieten dort leistbar sind.

2021 ließ sich zum Beispiel das junge Ausstellungsformat Haus Wien in der Gegend nieder und bespielte für eine Woche ein Fabrikgebäude und eine Kleingartensiedlung mit zeitgenössischer bildender Kunst. Doch während Haus jährlich eine andere dezentrale Location sucht und dieses Jahr überhaupt aussetzt, hat das Off-Grid-Festival inzwischen im Kreta-Grätzel eine Heimat gefunden: Zum zweiten Mal wird das Fotofestival in einer ehemaligen Autowerkstatt, die nun den Namen Green Door Artists Space & Gallery trägt und von den Immobilienentwicklern Neuraum Wien temporär an Kreative vermietet wird, stattfinden – in seiner insgesamt dritten Ausgabe.

Fotografie als Event

Der Name Off Grid, was so viel wie jenseits des Gestaltungsraums, des Rasters, vielleicht auch der Norm und des Bekannten bedeutet, kann also durchaus auch auf die Örtlichkeit, an der das kleine, aber feine Festival stattfindet, bezogen werden; inhaltlich liegt der Fokus auf Fotografinnen und Fotografen, die am Anfang ihrer Karriere stehen, noch nicht etabliert sind, sich also (noch) im sogenannten Off befinden. Das Festival will nicht nur ein Ort der Ausstellung sein, sondern zur Vernetzung der Kunstschaffenden untereinander beitragen. Tatsächlich ist die Stimmung familiär und ungezwungen, auch Anrainerinnen und Anrainer schauen vorbei. Dass fast alles gratis ist, hält die Schwellenangst gering.

Fotografin Rea von der Liszt, die im Alter von 19 begann, Menschen zu fotografieren, die nur wenige Jahre jünger als sie selbst waren hält die prägende Zeit des Erwachsenwerdens in intimen und melancholischen Bildern fest.
Foto: Rea Djurovic

Auch ums Verkaufen geht es den Machern, den Fotografen Paul Pibernig (39) und Sebastian Gansrigler (28), nicht. Interessierten werden zwar gerne die Kontakte der Ausstellenden vermittelt, bei etwaigen Verkäufen wird aber nicht mitgeschnitten. Die Finanzierung des Festivals erfolgt durch Förderungen von Stadt und Bund – für die Veranstalter bleibt da am Schluss nichts oder nur wenig übrig. Wie bei allen Festivals, die direkt aus Szenen kommen, die per se konsumkritisch sind, ist auch das Off Grid eine Herzensangelegenheit mit Tendenz zur Selbstausbeutung.

Damit haben die beiden Veranstalter Erfahrung. Als sie einander 2018 kennenlernten, betrieb Gansrigler schon das Indie-Fotomagazin Auslöser, Pibernig verwirklichte das Editionen-Projekt OTAMP, das es Fotointeressierten ermöglichte, leistbare Prints von aufstrebenden Fotografinnen zu erwerben. Beides keine Projekte, mit denen man reich wird. Pibernig spielte mit der Idee, ein Festival auf die Beine zu stellen, und fand in Gansrigler den richtigen Partner. Mit viel Leidenschaft und wenig Ahnung vom Festivalbetrieb stellten sie 2020 die erste Ausgabe von Off Grid, damals noch im 16. Bezirk, auf die Beine und stießen auf große Resonanz in der Szene. Auch weil es abgesehen vom Großfestival Foto Wien in der Hauptstadt gar nicht so viele Orte gibt, an denen Fotografie zum Event wird.

Nun ist das Festival schon ordentlich gewachsen. Nicht nur finden an zahlreichen Partnerinstitutionen in der Stadt wie Improper Walls oder OK6 im Festivalzeitraum Ausstellungen und Talks statt; neben der Hauptausstellung hinter der grünen Tür gibt es auch einen kuratierten Buchshop, Workshops, einen Projektionsabend und eine Eröffnung mit der Band Aze.

"Vlad" aus der Serie "Lost Paradise" des ukrainischen Kollektivs Gorsad. Ursprünglich als Dokumentation "ewiger Jugend" gedacht, wirkt die Serie nun wie eine Erinnerung an etwas Unwiederbringliches.
Foto: Gorsad

Den Spirit erhalten

Wer bei Off Grid ausstellen darf, ermitteln die beiden Gründer mittels Open Call. Dieses Jahr freute man sich über 250 Einreichungen von internationalen und nationalen Künstlern und Künstlerinnen. 18 Positionen haben es in die Hauptausstellung geschafft. Wichtig ist den Machern des Off Grid, die Diversität von Fotografie – sowohl technisch als auch thematisch – abzubilden.

Mit dem Thema Jugend beschäftigt sich zum Beispiel die Fotografin Rea von der Liszt, die im Alter von 19 begann, Menschen zu fotografieren, die nur wenige Jahre jünger als sie selbst waren. Diese prägende Zeit des Erwachsenwerdens hält sie in intimen und melancholischen Bildern fest. Auch das Kollektiv Gorsad aus Kiew zeigt Porträts junger Erwachsener, die sich bedingt durch den Krieg nun anders lesen lassen als ursprünglich intendiert. Nun wirken sie wie Dokumente eines großen Verlusts von Freiheit und Lebensfreude.

Megan Auer, die die künstlerische Fotografie als Sprachrohr für Aufklärung und Aktivismus sieht, hat sich mit nachhaltigen landwirtschaftlichen Betrieben beschäftigt: "Jeder kennt mittlerweile Schockbilder von Massentierhaltungen und endlos erscheinenden Monokulturfeldern. Ich möchte mit meiner Arbeit zeigen, dass noch nicht alles verloren ist und es Betriebe gibt, für die es sich zu kämpfen lohnt", erzählt die Fotografin, die via Instagram auf das Festival aufmerksam wurde und Lust hatte, bei einem jungen und noch nicht in seinem Stil festgefahrenen Ausstellungsprojekt mitzumachen. Auch wenn Gansrigler und Pibernig im dritten Jahr nun schon fast Festivalprofis sind, wollen sie genau diesen Spirit erhalten: nicht weiter wachsen, auf Qualität statt Quantität setzen und familiär in Favoriten bleiben. (Amira Ben Saoud, 6.9.2022)