Bei einer Sepsis kommt es zu einer Überreaktion des Immunsystems. Jedes Jahr sind weltweit 50 Millionen Menschen davon betroffen.

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Hohes Fieber, Schüttelfrost, heftiges Schwitzen, generell ein schweres Krankheitsgefühl – da schrillten bei Gerhard Schwarz* die Alarmglocken. Zwar laborierte der damals 56-Jährige schon rund zehn Tage an einer Verkühlung, aber die war eigentlich wie ein ganz normaler grippaler Infekt verlaufen. Als es mit seinem Befinden auf einmal rapide bergab ging, rief seine Frau den Notarzt. Zum Glück!

Denn Schwarz hatte eine Sepsis entwickelt – eine außer Kontrolle geratene Reaktion des Immunsystems. Auslöser war, wie man später feststellte, seine Knieprothese. Ein Erreger haftete an dieser körperfremden Oberfläche und setzte von dort ausgehend das Immunsystem außer Gefecht. Für ihn ging es "glimpflich" aus. Die Prothese musste entfernt werden, der Herd über rund drei Monate ausheilen, dann bekam er ein neues Kniegelenk. Doch er überlebte und hatte auch keine schweren Langzeitfolgen.

Das ist nicht selbstverständlich. Jedes Jahr haben rund 50 Millionen Menschen weltweit eine Sepsis, elf Millionen Menschen sterben daran – drei Millionen davon sind Kinder und Jugendliche. Sepsis ist die häufigste Ursache für Todesfälle im Krankenhaus, wie die Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin (Ögari) mitteilt. Und von jenen, die sie überleben, haben rund die Hälfte Langzeitfolgen.

Game over fürs Immunsystem

Doch was ist eine Sepsis genau? Immer noch denken dabei viele Menschen an eine Blutvergiftung – ein Keim kommt über eine Wunde in die Blutbahn und löst dort eine so schwere Entzündung aus, dass sie unbehandelt tödlich endet. Erkennen könne man das, so die Annahme, an einem roten Strich, der sich, ausgehend von der Wunde, entlang der Blutbahn bildet. Doch dieses Wissen ist veraltet und längst überholt.

"Sepsis ist eine überschießende Reaktion des Immunsystems auf einen oft unerkannten Erreger. Das kann ein Bakterium, ein Virus oder auch ein Pilz sein. Die außer Kontrolle geratene Infektion richtet sich gegen den eigenen Körper und die Organe. Wird das nicht rechtzeitig behandelt, führt das im schlimmsten Fall zu Schock und Multiorganversagen, die betroffene Person stirbt", erklärt Eva Schaden, Anästhesistin, Intensivmedizinerin und Vorstandsmitglied der Ögari.

Covid-19 als "virale Sepsis"

Wieso es zu einer Sepsis kommt, weiß man nicht. Auf die gleichen Keime reagieren Menschen völlig unterschiedlich, viele mit leichten Symptomen, manche ganz extrem. "Man kennt das mittlerweile von Covid-19, manche haben ein bisschen Halsweh, andere werden schwer krank. Und warum, das weiß man nicht genau. Wenn man so will, kann man schwere Covid-19-Verläufe auch als virale Sepsis bezeichnen", sagt Schaden.

Ähnlich wie bei schweren Corona-Verläufen kennt man aber das Risikoprofil von Sepsis-Gefährdeten. Grundsätzlich haben jene ein erhöhtes Risiko, deren Immunsystem nicht ideal arbeitet. Das ist bei sehr alten Menschen der Fall, bei jenen mit Komorbiditäten, bei Personen, deren Immunsystem unterdrückt ist, und auch bei kleinen Kindern – anders als bei Covid-19 sind sie im Verhältnis häufig von Sepsis betroffen. Und natürlich kann es auch, wie immer, völlig gesunde, eher junge und fitte Menschen treffen – die sind jedoch wirklich die Ausnahme, die die Regel bestätigt.

Häufige Ausgangspunkte für die überschießende Reaktion des Immunsystems sind Lungenentzündungen, Harnwegsinfekte, Infektionen im Bereich der Haut wie etwa Rotlauf und Infekte im Bauchbereich. Insbesondere bei Kindern ist außerdem Hirnhautentzündung ein relevanter Auslöser. Weitere Ursachen können Fremdoberflächen im Körper sein wie ein Katheter oder, wie eben bei Gerhard Schwarz, eine Prothese. Schaden erklärt: "Auf diesen Fremdoberflächen bilden Keime einen Biofilm und schützen sich so vor antiinfektiven Medikamenten. Ausgehend von dem Biofilm können sie aber auch in die Blutbahn ausgeschwemmt werden, und dann kann es zu einer Sepsis kommen."

Schrillende Alarmglocken

Wie erkennt man nun eine Sepsis? Das ist genau das Problem. Die Anzeichen sind sehr unspezifisch, typisch sind hohes Fieber, Schüttelfrost, sehr schnelles Atmen, Schwitzen, aber auch Verwirrtheit. "Wenn man beobachtet, dass der Opa oder die Oma hohes Fieber hat und sich nicht mehr wirklich auskennt, dann holen Sie bitte sofort Hilfe und warten nicht zu", appelliert Schaden.

Denn Früherkennung ist im Kampf gegen die Sepsis der wichtigste Faktor. "Je früher man die Anzeichen einer Sepsis erkennt, desto besser kann man gegensteuern. Kommt man rechtzeitig drauf, kann das mit der richtigen Behandlung in zwei oder drei Tagen wieder erledigt sein, und auch die Gefahr von Langzeitfolgen ist relativ gering."

Anders sieht es aus, wenn man die Infektion nicht rechtzeitig erkennt. Dann kann ein sogenannter septischer Schock entstehen, das bedeutet, dass Herz und Niere nicht mehr richtig arbeiten, der Blutdruck betroffen ist. Es kann dann eine Woche oder länger dauern, bis man das Problem wieder in den Griff bekommt – wenn überhaupt. Außerdem besteht die Gefahr von Langzeitfolgen wie Organschäden, die etwa eine Dialyse notwendig machen können. Und auch Amputationen nach Durchblutungsschäden können eine Folge sein. Im schlimmsten Fall stirbt man an einer Sepsis – was bei einer von fünf betroffenen Personen der Fall ist.

Post-Sepsis ähnlich wie Long Covid

Um diese in Wirklichkeit dramatischen Zahlen zu senken, ist die Früherkennung so wichtig. Denn die Behandlung einer Sepsis ist kein Spaziergang. Da wird, sozusagen, mit Kanonen auf vermeintliche Spatzen geschossen. "Wenn Betroffene auf die Intensivstation kommen, geht es ums Überleben, man kann nicht warten, bis die genaue Ursache bekannt ist", beschreibt Schaden die Dringlichkeit. Entsprechend wird mit einer umfassenden Antibiotikatherapie begonnen, um alles zu treffen, was ein potenzieller Auslöser sein kann. Sobald mikrobiologische Untersuchungen des Blutes oder anderer Körperflüssigkeiten Aufschluss über mögliche Ursachen geben, wird die Therapie entsprechend angepasst.

Und nicht nur Organschäden können einer Sepsis folgen, es gibt auch andere, weniger greifbare Langzeitfolgen. Etwa die Hälfte der Überlebenden ist davon betroffen. Häufige Symptome sind kognitive Einschränkungen, psychiatrische Probleme wie Angststörung, posttraumatische Belastungsstörung oder Depression, körperliche Einschränkungen durch Neuro- und Myopathien, Versteifung der Gelenke, Schluckstörungen, aber auch kardiovaskuläre Probleme. Die Symptome ähneln dem Post-ICU-Care-Syndrom (Pics) nach einem Aufenthalt auf der Intensivstation und sind auch mit den Folgen einer Covid-19-Erkrankung mit Intensivversorgung vergleichbar.

Mittlerweile gibt es auch eine Bezeichnung dafür, Post-Sepsis-Syndrom, in der Hoffnung, dass die Reha-Versorgung dadurch besser strukturiert wird. Denn ähnlich wie bei Long-Covid-Symptomen ist das Beschwerdebild nach einer Sepsis sehr divers, darum ist eine ganzheitliche Nachsorge in der Reha nötig. Hier besteht noch Nachholbedarf, denn: "Alle therapeutischen Erfolge der Intensivteams verlieren an Bedeutung, wenn die Nachsorge nur unzureichend gewährleistet ist", betont Intensivmedizinerin Schaden. (Pia Kruckenhauser, 18.9.2022)