"Scusi": Das erste Wort, das Anna Netrebko am Montagabend bei ihrem Auftritt als Mimì in Puccinis La Bohème (noch hinter der Bühne) zu singen hatte, war justament "Entschuldigung". Man könnte das durchaus symbolisch verstehen in ihrer aktuellen Situation. Ihr Statement, in dem die Russin den Krieg gegen die Ukraine verurteilte, hat viele nicht überzeugt (siehe Für & Wider).

Auch bei ihrem ersten Auftritt in der Staatsoper nach Ausbruch des Krieges traten die Fronten zwischen ihren Unterstützern und ihren Kritikern schnell zutage. Als sie kurz nach ihrem "Scusi" die Bruchbude von Rodolfo und Co und somit die Bühne betreten hatte, empfing die 50-Jährige ein Schreikampf zwischen wenigen lauten Buhs und vielen Bravos. Bertrand de Billy reagierte im Orchestergraben gelassen und dirigierte einfach weiter. Nach einiger Zeit legte sich der Tumult.

Proteste vor der Aufführung

Proteste hatte es schon vor der Aufführung auch vor der Oper gegeben. Etwa 40 Demonstrierende äußerten sich am Karajan-Platz zum Teil moderat, zum Teil radikal zu Netrebko. "Sie ist ein Nazi!", schrie eine Frau auf Englisch ins Megafon, und in Richtung des heranströmenden Publikums: "Schande! Schande! Schande!" Polizisten bewachten den Eingang und das Foyer. Am Ende der Aufführung sollten sich in den flammenden Beifall für Netrebko nur noch kaum wahrnehmbare Protestrufe mischen.

Gegen Anna Netrebkos Auftritt Demonstrierende am Karajan-Platz neben der Staatsoper.
Foto: APA/HERWIG G. HOELLER

Und wie war nun ihre Mimì? Wundervoll, speziell wenn man bedenkt, dass Netrebko diese Partie seit sieben Jahren nicht mehr gesungen hat. Die Tosca, die Aida und die Turandot waren zuletzt die Partien, die ihrem massiver und fülliger gewordenen Sopran mehr entgegenkamen. Doch bei ihrer Mimì beeindruckten etwa im dritten Bild nicht nur ihre langen, tragfähigen, mit Verzweiflung imprägnierten Kantilenen, sondern auch ihre Verabschiedung mit endlos langen, zart-schwebenden Tönen. Und beim Tod der Stickerin herrschte sowieso kollektiver Taschentuchalarm.

Zweieinhalb Sternstunden

Mit Vittorio Grigolo hatte die zur Gemächlichkeit neigende Netrebko einen Turbo an ihrer Seite. Der Italiener ist dynamisch wie darstellerisch ein Heißsporn, der die Extreme liebt und zwischen ihnen Haken schlägt. Bei seinem Fortissimo fliegt das Dach weg, im Piano kann er schmachten wie Julio Iglesias. Ob man seinen Rodolfo als hyperintensiv oder überdreht wahrnahm, war Ansichtssache. Von seinen Künstlerkollegen gefiel George Petean als warm klingender Marcello, Günther Groissböck begeisterte als Colline mit Spielfreude. Und Nina Minasyans Musetta war gesanglich tadellos, darstellerisch fehlte es an Komik und Sinnlichkeit.

Anna Netrebko als Mimì in der Staatsoper.
Foto: Wiener Staatsoper/Barbara Zeininger

Die Bohème-Serie wurde ja vor zehn Tagen anstelle einer krankheitsbedingt gecancelten Wiederaufnahme von La Juive angesetzt. Von dieser dürften einige Proben übernommen worden sein, denn das Staatsopernorchester musizierte unter der Leitung von de Billy so spritzig, beschwingt, leichtfüßig und hochpräzise, aber auch so drastisch und intensiv wie nie zuvor. Jubel für zweieinhalb Sternstunden an einem in vielerlei Hinsicht äußerst emotionalen Saisonbeginn. (Stefan Ender, 6.9.2022)