"Reißerische, vereinfachende Überschriften und Bilder sind sicherlich riskant und gefährlich", sagt Thomas Niederkrotenthaler von der Medizinischen Universität Wien über Suizidberichterstattung.

Foto: MedUni Wien/feelimage

Wien – Medienberichte über Suizide wie jener der oberösterreichischen Ärztin Lisa-Maria Kellermayr spielen eine wichtige Rolle in der gesellschaftlichen Aufklärung. Studien belegen, dass eine bestimmte Form der Berichterstattung nicht nur Imitationssuizide ("Werther-Effekt") verhindert, sondern auch präventiv wirken kann ("Papageno-Effekt"). Am Donnerstagabend wird im Presseclub Concordia der Papageno-Medienpreis für suizidpräventive Berichterstattung verliehen. Thomas Niederkrotenthaler, Leiter der Abteilung für Suizidforschung und Mental Health Promotion an der Medizinischen Universität Wien, erklärt, worauf es ankommt.

STANDARD: "Letzte Abrechnung der Impf-Ärztin" titelte etwa die "Kronen Zeitung" mit Verweis auf Lisa-Maria Kellermayrs Abschiedsbriefe. Was denken Sie sich bei solchen Schlagzeilen?

Niederkrotenthaler: Das ist sicherlich enorm verkürzend, reißerisch anklagend und fördert gar nicht das Verständnis für Menschen, die Suizidalität haben. Wenn jemand verzweifelt ist, was ist dann eine Abrechnung? Motive für Suizid sind nur sehr schwer zu erfassen, sowohl für Angehörige als auch für jene, die in der Prävention und Forschung arbeiten. Das ist nie einfach. Journalistisch ist es ein wichtiger Beitrag für die Präventionsarbeit, diese Komplexität auch zu transportieren, und nicht wie in der erwähnten Überschrift darzustellen. Nebenbei frage ich mich auch noch, was genau ist eine Impfärztin? Wieder sehr reduktiv das Ganze.

Keine Zurückhaltung: die "Krone" über den Suizid Lisa-Maria Kellermayrs.
Foto: Kronen Zeitung/Faksimile

STANDARD: Die "Kronen Zeitung" hat aus Kellermayrs Abschiedsbriefen zitiert, der "Kurier" aus einem vermeintlichen Brief, den FPÖ-Politiker Hans-Jörg Jenewein geschrieben haben soll. Ist das ein No-Go in der Berichterstattung oder unter bestimmten Umständen legitim, weil es im Interesse der Öffentlichkeit ist?

Niederkrotenthaler: Spekulationen in Medien sind sicherlich zu vermeiden, es bedarf einer genauen Recherche, um einen Einblick in Hintergründe zu erhalten. Zitate aus Abschiedsbriefen helfen da nur sehr begrenzt, sondern können im Gegenteil auch Angehörige weiterem, nicht notwendigem Trauma aussetzen.

STANDARD: Der "Falter" hat beispielsweise die Suizidmethode genannt und sich dafür entschuldigt. Sollte das immer vermieden werden?

Niederkrotenthaler: Ja, unbedingt. Berichte, die Suizidmethoden aufzeigen, haben ein größeres Risiko, Imitation zu triggern.

STANDARD: Sollen Medien überhaupt berichten, wenn es etwa um einen Suizidversuch einer Politikerin, eines Politikers oder einer prominenten Person geht, oder geht es einfach nur um das Wie?

Niederkrotenthaler: Es ist immer eine Abwägungsfrage. Es geht hier um Risikominimierung. Das heißt, wenn Informationsbedarf besteht, dass man auf Vereinfachungen und Spekulationen verzichtet, die Suizidmethode nicht nennt und stattdessen auch Hilfsangebote erwähnt. Und ganz wichtig wäre auch, über Menschen zu berichten, die Suizidalität bewältigen oder mit einem Verlust durch Suizid umgehen. Denn das hilft anderen, die diese Information lesen oder sehen. Es gibt so viel Menschen, die diesbezügliche Erfahrungen haben, und dennoch wird darüber noch nicht ausreichend berichtet.

STANDARD: Wie wichtig sind Medienberichte in der Aufklärung und der Prävention?

Niederkrotenthaler: Äußerst wichtig, da Medien ohnehin die wichtige Informationsquelle für Gesundheitsthemen sind. Das gilt insbesondere für stigmatisierte Themen wie psychische Gesundheit und Suizidalität. Und wie die Forschung zeigt, können Medien aktiv beitragen, Suizide zu verhüten und Suizidalität zu verringern, nämlich dann, wenn Wege zur Bewältigung von Krisen aufgezeigt werden, das ist der Papageno-Effekt.

STANDARD: Welche Berichte bergen die Gefahr eines Nachahmungseffekts?

Niederkrotenthaler: Die Forschung zeigt, dass diese Gefahr besonders dann besteht, wenn sensationsträchtig über Suizide oder Suizidversuche berichtet wird. Oft handelt es sich hier um Berichte über Prominente, die sich das Leben genommen hatten. Es gibt aber Möglichkeiten, darüber auf sichere Weise zu berichten, also ohne Imitation zu triggern, indem Medienempfehlungen zur Berichterstattung über Suizid beachtet werden. Auf die Darstellung von Suizidmethoden und vereinfacht spekulative Gründe des Suizids sollte immer verzichtet werden. Weiters sollen Hilfseinrichtungen genannt werden, um den Leserinnen und Lesern, die selbst in Schwierigkeiten stecken, diese Hilfe kenntlich zu machen. Grundsätzlich ist Suizid nie einfach erklärbar – zum Beispiel mit Depression oder Scheidung. So viele Menschen haben Depressionen oder lassen sich scheiden, aber sterben nicht durch Suizid.

STANDARD: Welche Formulierungen sind besonders wichtig? Sollen Medien immer den Begriff Suizid verwenden?

Niederkrotenthaler: Formulierungen sollten nicht stigmatisierend oder missverständlich sein. Selbstmord begehen wird zum Beispiel als stigmatisierend wahrgenommen, weil es Suizid in die Nähe von Straftaten rückt. Der Terminus Freitod auf der anderen Seite ist auch sehr missverständlich , da er suggeriert, das sei ein Akt der Freiheit — meist ist es aber das Gefühl, so nicht mehr weiterzukönnen, was die Basis für Suizidalität bildet. Mit Freiheit hat das dann nur sehr begrenzt zu tun.

STANDARD: Platzierungen auf der Titelseite sollen vermieden werden, heißt es im Leitfaden zur Suizidberichterstattung des Kriseninterventionszentrums. Wo beginnt die Nachahmungsgefahr durch Identifikation, und wo endet das öffentliche Interesse?

Niederkrotenthaler: Es geht hier immer um eine sensible Abwägung und auch um die Frage, wie die Darstellung konkret aussieht. Reißerische, vereinfachende Überschriften und Bilder sind sicherlich riskant und gefährlich und können oft auch vermieden werden. Wiederholtes Bringen desselben Suizids auf der Titelseite ist auch oft anders zu bewerten als der Informationsbedarf eines einmaligen Berichts. Da gibt es einige Überlegungen und Möglichkeiten, journalistische Entscheidungen zu treffen, die immer einer Abwägung bedürfen. Es geht der Prävention ja nicht darum, nicht zu berichten. Im Gegenteil, aufs Wie kommt es an.

STANDARD: Bei welchem Fall ist die mediale Berichterstattung aus Ihrer Sicht aus dem Ruder gelaufen?

Niederkrotenthaler: Es gibt immer große Unterschiede je nach Medium und Medienschaffenden, und es gab auch über den Suizid von Frau Kellermayr durchaus Berichte, die die Information adäquat und ohne Risiko transportierten. Oft fokussieren diese Berichte mehr auf das Leben der durch Suizid gestobenen Person als auf den suizidalen Akt oder stark vereinfachte und spekulative Erklärungen.

STANDARD: Wie beurteilen Sie generell Österreichs Medien und ihre Suizid-Berichterstattung?

Niederkrotenthaler: Insgesamt hat sich die Qualität seit der Ersteinführung der Medienempfehlungen stark verbessert, wie wir auch in einer Studie zeigen konnten. Die Zahl der Berichte ist seit Mitte der 80er-Jahre stark gestiegen, die Qualität ist aber besser geworden. Simplifizierte Darstellungen sind hier seltener, kommen aber leider immer noch gelegentlich vor. Es gilt hier unter Medienschaffenden, Informationen zu verbreiten, wie präventiv berichtet werden kann mithilfe von Medienempfehlungen, wie sie zum Beispiel von der WHO oder von kriseninterventionszentrum.at bezogen werden können.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Situation international ein?

Niederkrotenthaler: Es gibt sehr große Unterschiede. Gerade in asiatischen Ländern wird derzeit oft sehr sensationsträchtig berichtet. In Australien wird immer stärker auch Prävention thematisiert, was sehr wichtig ist im Sinn des Papageno-Effekts.

STANDARD: Sollten unter jedem Artikel, der von Suizid handelt, Kontaktadressen von Hilfseinrichtungen stehen?

Niederkrotenthaler: Ja, da es immer Leserinnen und Leser gibt, denen der Bericht nahegeht und die eventuell selbst in Schwierigkeiten stecken und Hilfe benötigen.

STANDARD: Welche Rolle spielt es bei der Berichterstattung, ob es eine Person öffentlichen Interesses ist oder nicht?

Niederkrotenthaler: Gerade sensationsträchtige Berichte über Personen, mit denen sich viele gut identifizieren können, also zum Beispiel Prominente, die beliebt sind, haben ein hohes Risiko, wenn nicht im Sinn der Medienempfehlungen berichtet wird. Mit diesen Menschen kann man sich leichter identifizieren. Dasselbe gilt aber auch umgekehrt, also beim Berichten über Bewältigung: Die Reduktion von Suizidalität ist umso stärker, je mehr sich die Leserin und der Leser mit der persönlichen Geschichte des Betroffenen identifizieren. Das haben wir mittlerweile in mehreren Studien nachgewiesen. (Oliver Mark, 8.9.2022)