Bundeskanzler Karl Nehammer im ORF-"Sommergespräch" mit dem Moderatorenduo Julia Schmuck und Tobias Pötzelsberger.

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Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) sieht keine Versäumnisse, was den Klimaschutz in Österreich betrifft. "Österreich ist ein gutes Land", sagte er im ORF-"Sommergespräch" am Montag. Anstatt Statistiken individuell zu lesen und zu interpretieren, prüfe er die Fakten. 75 Prozent von Österreichs Energie stammten bereits aus erneuerbarer Energie. Man habe hierzulande mit Windkraft gearbeitet, wo noch keiner an Windkraft gedacht habe.

Österreich sei ein gern gesehener Exporteur von erneuerbarer Energie und habe auch ohne Klimaschutzgesetz das Klima geschützt. Im internationalen Vergleich stehe das Land beim Klimaschutz gut da. Und wenn es schon um die CO2-Bilanz gehe, müsse man auch über den Tanktourismus sprechen, so die Argumente des Kanzlers. Wie viel ist an diesen dran?

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"Schlechtes" Zeugnis für Österreich

Im Gegensatz zu Nehammer kommen viele Umweltschützer und Klimaexpertinnen meist zu einem anderen Ergebnis. So stellte der von der Umweltschutzorganisation Germanwatch herausgegebene Klimaschutz-Index Österreich beim Klimaschutz kürzlich ein "schlechtes" Zeugnis aus.

Ausgewertet wurden die Klimaschutzbemühungen von 60 Ländern in den Kategorien Treibhausgase, erneuerbare Energien, Energieverbrauch und Klimapolitik. Österreich belegt dabei den 37. Platz. In der Bewertungsskala von "sehr gut" bis "sehr schlecht" liegt Österreich damit im zweitniedrigsten Bereich "schlecht".

Zum Vergleich: Deutschland, das Nehammer erwähnt, weil es "mehrere Braunkohlekraftwerke wieder ans Netz wirft, damit die Energieversorgungssicherheit gewährleistet ist", liegt dem Index zufolge auf Platz sechs und damit im Bereich "gut".

Wasser, Wind und Sonne

Mit der Aussage, wonach Österreich bei den erneuerbaren Energien bereits sehr weit ist, hat Nehammer teilweise recht. In der EU liegt Österreich bei den erneuerbaren Energien an vierter Stelle hinter Schweden, Lettland und Finnland – was vor allem auch an der Wasserkraft liegt. Im Jahr 2020 deckten Wasserkraft, Wind und Photovoltaik hierzulande rund 73 Prozent der gesamten Stromerzeugung ab, so das Klimaministerium. Laut Nehammer sind es im Sommer sogar 100 Prozent.

Das traf im Vorjahr auch zu – zumindest fast: Laut der Austrian Power Grid AG (APG) konnten im Juli 2021 rund 96 Prozent des Stromverbrauchs durch erneuerbare Energien gedeckt werden. Heuer waren es jedoch nur 77 Prozent. Das liegt etwa an der anhaltenden Trockenheit, durch die Wasserkraftwerke rund zehn Prozent weniger Strom produzieren konnten als im Jahresschnitt. Im Winter hingegen kann sich Österreich meist nicht ausreichend mit erneuerbarer Energie versorgen, wie Nehammer im Gespräch korrekt beschreibt. In diesen Monaten ist Österreich auf Importe aus dem Ausland angewiesen.

Energie ist nicht nur Strom

Dass Nehammer im Gespräch mehrmals vom 75-Prozent-Anteil Erneuerbarer an Österreichs "Energie" sprach, ist jedoch falsch. Laut Johannes Schmidl vom Verband für erneuerbare Energie meint der Bundeskanzler damit nicht den Energie-, sondern den Stromverbrauch. "Das sind zwei paar Schuhe", sagt Schmidl.

Der Stromverbrauch mache österreichweit und im Jahresdurchschnitt 20 Prozent des Energieverbrauchs aus. 50 Prozent entfallen auf die Wärme (etwa zum Beheizen von Wohnungen und Häusern im Winter) und 30 Prozent auf den Verkehr. Insgesamt haben erneuerbare Energien einen Anteil von 33 Prozent – nicht 75 Prozent – an Österreichs Energieverbrauch. Der Rest wird nach wie vor mit Öl und Gas gedeckt.

Nicht die Ersten bei Windkraft

Auch Nehammers Aussage, man habe hierzulande mit Windkraft gearbeitet, wo noch keiner an Windkraft geglaubt habe, stimmt laut Schmidl nicht. Die moderne Windenergie zur Stromerzeugung sei ab den 80er-Jahren in Dänemark entwickelt worden. In Österreich habe es die ersten großen Anlagen Mitte der 90er-Jahre gegeben.

Wo Schmidl allerdings zustimmt: Österreich ist ein gern gesehener Exporteur von erneuerbarer Energie. Das sei sowohl bei Wasserkraft, Biomasse und Komponenten der Windenergie, etwa Flügeln, Turbinen und Elektronik, als auch bei Planungsleistungen der Fall.

Emissionen so hoch wie 1990

Trotz Stroms aus Wasser, Wind und Sonne haben sich die Treibhausgasemissionen in Österreich in den letzten Jahrzehnten jedoch kaum geändert. Nach einem kurzen Einbruch durch die Corona-Pandemie sind die Emissionen in Österreich im Vorjahr wieder gestiegen – um etwa 6,5 Prozent auf das seit über 30 Jahren nicht gesunkene Niveau von 1990.

In den letzten 30 Jahren ist also bei den Emissionen wenig passiert. Währenddessen sind die Treibhausgasemissionen in der EU seit 1990 um fast ein Viertel gesunken. Ein Grund ist, dass der Verkehrssektor in Österreich beinahe unvermindert weiter wächst: Laut dem Umweltbundesamt sind die Treibhausgase hier seit 1990 um rund 52 Prozent gestiegen. Im Jahr 2019 sorgte der Verkehrssektor für rund 24 Millionen Tonnen CO2-Äquivalente.

Dieselprivileg abschaffen

Laut Nehammer müsse man in puncto Emissionen und Verkehr auch über den "Tanktourismus" sprechen. Dabei stimmt es durchaus, dass in Österreich getankte und im Ausland verfahrene Treibstoffe der österreichischen Bilanz zugerechnet werden. Durch das Dieselprivileg war Sprit in Österreich bisher meist um eine Spur billiger als im Ausland, sagt Energieexperte Schmidl.

Die zur Bilanz zugerechneten Emissionen seien daher eine Folge der niedrigen Besteuerung des Treibstoffs. Man profitierte stets davon, dass vor allem Gäste aus Deutschland und Italien an österreichischen Tankstellen tanken. Das Dieselprivileg abzuschaffen kann laut Fachleuten daher auch die CO2-Emissionen im Verkehrssektor verringern.

Emissionen von importierten Produkten

Umgekehrt profitiert Österreich jedoch auch wieder von vielen Produkten, die im Ausland produziert werden und dort CO2-Emissionen verursachen. Das führt dazu, dass die CO2-Bilanz hierzulande oft besser erscheint, als sie in der Realität ist. Rechnet man die Emissionen der nach Österreich importierten Produkte mit den exportierten Waren – etwa Sprit – gegen, kommt man laut "Global Carbon Project" auf 35 Prozent höhere Werte als auf dem Papier.

Aber auch ohne ausländische Produkte in die CO2-Bilanz einzuberechnen, sind die Pro-Kopf-Emissionen Österreichs im Vergleich zu anderen Ländern hoch. Im Jahr 2019 kam das Land laut Weltbank auf rund sieben Tonnen CO2 pro Kopf und damit fast genauso viel wie China.

Fehlendes Klimaschutzgesetz

Österreichs Klimaziele sehen vor, bis 2030 die Treibhausgasemissionen zu halbieren und bis 2040 Klimaneutralität zu erreichen. Viele Expertinnen und Experten sehen ein neues Klimaschutzgesetz als Schlüssel für diese Entwicklung.

Dieses soll neue verbindliche und konkrete Ziele für den Verkehr, die Industrie und die Landwirtschaft vorgeben, um die jährlichen CO2-Emissionen zu verringern. Bisher liegt das Klimaschutzgesetz jedoch seit mehr als 600 Tagen auf Eis. Die Grünen kritisieren ihren Koalitionspartner, in dieser Angelegenheit zu wenig Interesse zu zeigen.

Laut Nehammer schützt man das Klima in Österreich auch ohne Klimaschutzgesetz. Seine Prioritäten liegen in der Energieversorgungssicherheit und andererseits darin, die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren.

"Willkürlicher" Klimaschutz

Experten wie Reinhard Steurer, Professor für Klimapolitik an der Universität für Bodenkultur in Wien, sehen das anders. "Ohne Klimaschutzgesetz fehlt jegliche Planbarkeit und Verbindlichkeit", sagt er zum STANDARD. Klimaschutz werde dadurch willkürlich und das Erreichen oder Verfehlen von Zielen zum Zufall. Klimaschutz mit Zielen und Emissionsstatistiken, aber ohne verbindliche Rahmenbedingungen sei wie Straßenverkehr mit Tempolimits und Radarmessungen, aber ohne Strafen für zu schnelles Fahren.

Sollte Nehammer mit seinem Ziel, die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu reduzieren, erfolgreich sein, sollte sich das in Zukunft jedenfalls auch objektiv in Rankings und CO2-Werten messen lassen. Derzeit weisen diese Österreich, anders als von Nehammer behauptet, jedenfalls nicht als Klimaschutzvorreiter aus.

(Julia Beirer, Florian Koch, Jakob Pallinger, 6.9.2022)