Im Gastblog schreibt József Wieszt über das Leben von Anton Jäger (Name geändert) und dessen Versuch, in der Gesellschaft aufzusteigen.

Anton Jäger war Kind einer Familie, die mit uns im Frühjahr 1946 aus Ungarn vertrieben wurde. Wir Kinder behandelten ihn wie unseren Diener. Er musste uns gehorchen, sich unserem Willen und unseren Forderungen beugen. Wenn er sich widersetzte, verprügelten wir ihn, oder, schlimmer, wir verstießen ihn eine Zeitlang aus unserer Gemeinschaft. Erst wenn er uns um Verzeihung gebeten hatte, durfte er wieder bei uns sein. Wir wandten dabei das uns zu Hause antrainierte Verfahren an.

Dass er sich uns immer wieder anschloss, beweist einerseits seine Abhängigkeit, anderseits aber auch seine Ausdauer. Er war ein zäher Bursche. Hatte er sich ein Ziel gesetzt, hielt er beharrlich daran fest. Als er die Volksschule beendet hatte, wollte er schnell zu Geld kommen. Doch wie sollte er das anstellen?

Eine Erpressung mit zwei Erzählungen

"Ich könnte den reichen XY erpressen." Gesagt, getan. Den Brief schickte er mit der Post. Er forderte ihn zur Übergabe einer größeren Summe an einem bestimmten Platz zu einer bestimmten Zeit auf. Er drohte mit Brandstiftung, falls er das Geld nicht erhalten sollte.

Offizielle Erzählung

Zur angekündigten Zeit machte er sich mit seinem Moped auf den Weg. In der Dunkelheit warf ihm jemand einen Ast in den Weg. Er stürzte, überschlug sich und blieb bewusstlos liegen. Ein nachfolgendes Fahrzeug alarmierte Polizei und Krankenwegen, die sich seiner annahmen. Er hatte eine Gehirnerschütterung. Nach ein paar Tagen wurde er aus dem Krankenhaus entlassen. Eine Anzeige erfolgte nicht. Alle Beteiligten redeten von einem Verkehrsunfall.

Inoffizielle Erzählung

XY kam mit seinem Mercedes an die verabredete Stelle. Anton folgte kurze Zeit später. Er hatte sich einen schwarzen Strumpf mit Sehschlitzen über den Kopf gezogen und forderte das Geld.

"Wo ist es?"

"Im Kofferraum."

"Hol es!"

"Hol es dir selbst, er ist offen."

Als Anton den Deckel aufhob, sprang ein darin wartender Polizist heraus und verprügelte den überrumpelten Anton. Nach einem Schlag auf den Kopf wurde er ohnmächtig. Ein herbeigerufener Rettungswagen brachte ihn ins Spital. XY verzichtete auf eine Anzeige, und der Polizist ging von einem Verkehrsunfall aus. "Den haben wir bei uns noch nicht im Register", sagte er, bevor sich die beiden Männer trennten. "Er wird dort in Zukunft einen festen Platz haben."

Die Version mit dem Unfall wurde allgemein akzeptiert. Aber die Geschichte mit der vereitelten Erpressung verbreitete sich unter der Hand in dem Ort.

Früher habt ihr mich gequält

Ich habe Anton eine Zeitlang aus den Augen verloren, weil ich beruflich abwesend war. Als ich wieder zurückkam und ihn traf, fragte ich ihn nach seinem Unfall. Darüber gebe es nichts zu sagen. Er habe im Dunkeln die Kontrolle über sein Moped verloren und sei gestürzt. Den Rest kenne ich ja. Was er denn jetzt so mache, fragte ich weiter. Voller Stolz erzählte er mir dann, dass er alte Häuser aufkaufe, sie renoviere und mit Gewinn wieder verkaufe. Wo er denn das Geld hernehme, um die Häuser zu bezahlen und zu reparieren? Er habe eine Hypothek auf das Haus seiner Mutter aufgenommen. Mir kam das etwas seltsam vor, hatte er doch nichts gelernt, das ihn für solche Tätigkeiten qualifiziert hätte.

Wie viele Häuser er denn auf diese Weise erworben und wieder verkauft habe, fragte ich weiter. Bisher erst eins. Für das zweite führe er gerade die Gespräche. Wir redeten dann noch über andere Dinge, und ich wünschte ihm beim Abschied viel Erfolg für seine Unternehmungen. Unausgesprochen benahm er sich bei unseren Zusammentreffen so, als wolle er mir sagen: "Früher habt ihr mich verspottet und für dumm gehalten. Aber ich bin schlauer als ihr. Seht nur, wie weit ich es gebracht habe, ohne eine bessere Schule besucht zu haben."

Einen Berg hat er sich gekauft

Es dauerte erneut ein paar Jahre, bis ich Anton wiedersah. Er habe sich einen kleineren Berg oder Hügel im Wald gekauft und darauf eine Tennishalle errichtet, die er vermiete, erzählte er mir. Das Geschäft laufe gut, er könne die Nachfragen nach Terminen kaum bedienen. Am Rand erfuhr ich noch, dass er vor Jahren schon geheiratet hatte. Seine Frau habe leider ein krankes Kind zur Welt gebracht.

So ein Berg koste doch sicher eine Menge Geld, wo er das denn herhabe? Da stecke der Gewinn aus dem Hausverkauf drin, er habe auch wieder eine Hypothek auf das Haus seiner Mutter aufgenommen und zudem einen Bankkredit. Sein Geschäft laufe prima. Kürzlich habe er sogar den deutschen Generalvertreter eines bekannten italienischen Konzerns zurückweisen müssen, der per sofort seine Halle mieten wollte. Er habe diesem Herrn mitgeteilt, dass er einen Spielplan habe, von dem er keine Ausnahmen mache. Er habe ihm dann einen Termin in 14 Tagen angeboten, den ihm ein alter Kunde zurückgegeben habe. Der Generalvertreter habe ihn genommen.

Das erzählte Anton mit sichtbarem Stolz. Wieder konnte ich heraushören: "Siehst du, so weit habe ich es gebracht." Er wollte sich offenbar als gemachten Mann und ganzen Kerl präsentieren, der auch über große körperliche Kräfte verfüge. In einem Buch von Jack London hatte er gelesen, dass ein Mann eine rohe Kartoffel mit der Hand zerquetschen konnte. Er habe das versucht und könne es auch. Bei Wetten an der Theke habe er damit schon manchen "Zehner" gewonnen.

Große Probleme

Auf meine Frage nach seinem kranken Kind reagierte er sehr betroffen. Das sei leider so. Die Krankheit des Jungen könne nur in den USA mit Aussicht auf Erfolg behandelt werden, in einer Mayo-Klinik. Seine Krankenkasse bezahle die Behandlung nicht. Er habe sie aus seiner eigenen Tasche zu bezahlen. Für dieses Geld arbeite er Tag und Nacht. Seine Mutter unterstütze ihn zum Glück dabei.

Anton sagte, sein Berg bestehe zur Hälfte aus Schüttgut.
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Von einem Bekannten erfuhr ich, dass Antons Berg eine Besonderheit enthalte. Er bewege sich. Wie das denn gehen solle, fragte ich erstaunt. Er wisse es nicht genau, aber ich könne den Anton ja selbst fragen. Das tat ich bei unserer nächsten Begegnung. Das sei richtig. Beim Kauf habe er davon leider nichts gewusst. Als ich nicht verstehen konnte, wie ein sich Berg bewegen könne, erklärte er mir, sein Berg bestehe zu einer Hälfte aus harten Felsen, zur anderen aus Schüttgut, das im Verlauf von Jahrtausenden an die Felsen angelagert wurde. Von Jahr zu Jahr rutsche es ein bis zwei Zentimeter ab. Er habe darauf schon ein Lagerhaus gebaut, das sich jedes Jahr ein wenig nach unten bewege.

Mehrere Betonstützen habe er bereits unter das Fundament der Halle getrieben, aber die senkten sich mit dem rutschenden Hang des Berges. Nun versuche er gerade, ihn mit einer massiven Blockade aufzuhalten. Er habe einen stillgelegten Steinbruch gepachtet, aus dem er tonnenschwere Felsblöcke breche, mit denen er am Fuß seines Berges eine mindestens sechs Meter dicke Mauer zusammenfüge. Drei Meter habe er schon fertig. Als meine staunenden Blicke sah, lud er mich ein, sein Werk zu besichtigen. Es war beeindruckend. Den Transport der Steine und das Errichten der Mauer erledige doch eine Firma, mutmaßte ich. Nein, das mache er ganz allein. Er habe sich einen leistungsstarken Caterpillar gekauft, mit dem er die Arbeiten erledige. Auf dem Platz vor der Mauer lege er einen Parkplatz an, für später, wenn der Platz oben auf dem Hügel nicht mehr ausreiche. Beim Abschied wünschte ich ihm große Ausdauer und gutes Gelingen. Ich könne unbesorgt sein, gab er mir mit auf den Weg. So schnell gebe er nicht auf.

Antons Bruder

Antons jüngerer Bruder betrieb eine Tischlerei zur Restauration wertvoller alter Möbel. Meine Schwester hatte ihm ein schönes Vertiko zum Überarbeiten gegeben. Mehrmals hatte er den ihr genannten Termin zum Abschluss der Arbeiten überschritten. Bei einem gemeinsamen Besuch stellten wir ihn deshalb zur Rede. Wir müssten das verstehen. Er habe nicht das geeignete Holz für einen Teil der Reparatur. Schon seit Wochen suche er in den umliegenden Wäldern nach einem geeigneten Holz. Der Baum müsse auf dem Stamm vertrocknet sein. Gerade erst habe er einen brauchbaren Stamm gefunden und in die Werkstatt bringen lassen. Daraus könne er die feinen Holzplättchen herstellen, die er benötige. In zwei Wochen sei alles fertig.

Ich nutzte die Gelegenheit, um ihn nach seinem Bruder zu fragen. Dessen Sohn sei leider nicht gesund geworden und inzwischen gestorben, erklärte er mir. Es gehe seinem Bruder schlecht. Auch sein Geschäft floriere nicht mehr gut. Er habe Geldprobleme und wolle Hilfe von ihm, die er ihm aber nicht geben könne. Über Bekannte erfuhren wir, dass der Tischler im Lotto gewonnen habe und dass sein Bruder die Hälfte des Gewinns für sich fordere, um seine Schulden zu bezahlen. Als wir das Vertiko abholten, sprach ich ihn auf das Gerücht an, ob das wahr sei, was die Leute erzählten.

Ein Leben zerbröselt

Wahr daran sei, dass sein Bruder Geld von ihm fordere, über das er nicht verfüge. Er habe nämlich keine Million im Lotto gewonnen, wie die Leute meinen, sondern nur ein paar Tausend. Davon habe er sich einen Sportwagen gekauft, den er sich schon lange wünsche. Neidische Nachbarn hätten auch Geld von dem Gewinn gewollt, das er ihnen nicht geben konnte. Daraufhin hätten sie das Gerücht von einem Millionengewinn ausgestreut, an das sein Bruder offenbar glaube. Er setze ihn ständig unter Druck, um ihn gefügig zu machen. So sei er immer mit ihm umgesprungen. Er würde ihm auch gern etwas Geld geben, aber er habe es nicht.

Einige Wochen danach erhielt meine Schwester einen Anruf. Sie könne froh sein, dass sie ihr Möbelstück abgeholt habe. Vor ein paar Tagen sei die Tischlerei abgebrannt. Nun entstand das Gerücht, der Bruder sei der Brandstifter. Ich hatte danach keine Gelegenheit mehr, Anton zu treffen, um ihn nach dem Brand und der Entwicklung seines Tennisunternehmens zu fragen. Besonders hätte mich interessiert, wie sein Kampf mit dem Berg ausgegangen sei. Aber die Gelegenheit, ihn persönlich zu fragen, ergab sich leider nicht mehr.

Alles was ich über ihn noch erfuhr, war Folgendes: Sein Unternehmen stand kurz vor der Insolvenz. Wenige Tage vor der Pfändung seien seine Gebäude auf dem Berg zum Teil abgebrannt. Polizei und Staatsanwalt hätten wegen Brandstiftung gegen ihn ermittelt. Es sei jedoch nicht zu einer Anklage gekommen, erklärte mir ein informierter Polizist. Die Beweise hätten nicht ausgereicht. Die Bank, die die Kredite gegeben hatte, erlaube es Anton kulanterweise, im Haus seiner inzwischen verstorbenen Mutter ein Zimmer zu bewohnen. Er erhalte Sozialhilfe und fahre mit einem klapprigen Kleinlastwagen durch die Gegend.

Das Kind ist niemals nach Amerika gekommen

Als er vor dem Laden meines Verwandten anhielt und über die Straße herüberrief "Wie geht's dir denn?", habe der ihn kurz abgefertigt mit dem Hinweis: "Besser wie dir." Darauf sei Anton mit seiner Klapperkiste weggefahren. Wer weiß, welchen neuen Projekten und Abenteuern entgegen.

Wie es denn zum Ruin seines Unternehmens gekommen sei, fragte ich meinen Verwandten.

"Das kann ich dir sagen, er hat alles an der Börse verspielt."

"An der Börse?"

"Ja, in Frankfurt."

"Das weißt du sicher?"

"Würde ich es dir sonst erzählen?!"

"Als seine Geschäfte schlechter liefen und er seine Schulden nicht mehr bezahlen konnte, hat er sich über einen Bekannten bei seiner Bank einen neuen Kredit besorgt. Mit dem Geld spekulierte er an der Börse. Zunächst hatte er einen Makler eingeschaltet. Als ihm der nicht genug Gewinn einbrachte, habe er sich die Zulassung zum Börsenhändler besorgt. Frag mich nicht, wie. Jede Woche ein- oder zweimal ist er nach Frankfurt gefahren, um seine Börsengeschäfte zu erledigen."

"Hat er dir das erzählt?"

"Nein. Aber seine Mutter. Als er bei der Beerdigung einer Verwandten nicht da war, habe ich sie gefragt, wo Anton sei. Der konnte nicht kommen, er musste zur Börse nach Frankfurt. Das sei für ihn ein fester Termin, den er nicht verpassen dürfe. Sie bete jeden Tag für ihn, dass seine Geschäfte gut verlaufen würden. Das habe er ja nicht gelernt. Tränen liefen der armen Frau übers Gesicht."

"Hat er sein ganzes Geld in die Behandlung seines kranken Sohnes in der Mayo-Klinik stecken müssen?"

"Da konnte er das Kind doch gar nicht hinschicken, weil er schon dazu kein Geld mehr hatte."

"Ist das wahr"?

"Und ob. Das Kind ist niemals nach Amerika gekommen. Es starb da oben auf seinem Berg."

Die Geschichte eines Aufstiegsversuchs

Ich habe Antons Geschichte aufgeschrieben, weil er, als Kind von Vertriebenen, mit allen Mitteln nach oben wollte. Sein Schicksal ist beispielhaft für einen solchen Versuch. Er wollte beweisen, dass er besser sei als die Angepassten, die als brave Arbeiter oder Angestellte ihr Auskommen suchten, besser auch als seine ungarndeutschen Kameraden, die gute Schulen besuchten und, wie er meinte, auf ihn herabblickten, vor allem aber besser als die Einheimischen, die ihn anfangs als "Zigeunerjungen" behandelten und später gemieden haben. (Die Erpressungsgeschichte war auf Dauer nicht geheim geblieben. Wenn er nicht dabei war, redeten die Leute in der Kleinstadt über ihn als "Erpresser".)

In meiner weiteren Verwandtschaft und ungarndeutschen Bekanntschaft gab es noch eine Reihe von solchen Schicksalen, die der in den 50er-Jahren beliebten Auffassung widersprechen, die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in die bundesdeutsche Gesellschaft sei gelungen. Geradezu mustergültig für dieses Schicksal ist das Leben meines Onkels Hans, das ich anderweitig beschrieben habe. (József Wieszt, 19.9.2022)