Islam, Social Media und Rebellion: Melina Benli, Law Wallner und Maya Wopienka in Kurdwin Ayubs "Sonne".

Foto: Ulrich Seidl Filmproduktion

Kulturelle Aneignung verläuft oft nicht einfach von hier nach dort (aus der Schweiz nach Jamaika zum Beispiel, in einem zuletzt bekanntgewordenen Fall). Sie hat auch Aspekte von oben und unten. Unter einem Superhit wie Losing My Religion von R.E.M. zum Beispiel haben viele Interessen Platz. Ein Song, der fast täglich irgendwo im Radio läuft, lädt gerade dazu ein, ihn wieder spezifisch zu machen, ihn in einen spannenden neuen Kontext zu versetzen.

Genau das machen drei junge Frauen aus Wien in dem Film Sonne von Kurdwin Ayub. Yesmin, Bella und Nati nehmen mit der Handykamera eine Version auf, die auch mit der Doppeldeutigkeit des Titels spielt: Wer im Englischen seine "religion" verliert, wird nicht gleich gottlos, sondern sieht zuerst einmal nur die Contenance schwinden.

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Wer die Religion verliert, dem geht der Gizi auf. Aber man kann die Formulierung auch beim Wort nehmen. Dazu müsste man allerdings erst einmal die "Religion" von Yesmin und ihren Freundinnen bestimmen. Vielleicht Tiktok? Oder doch der Islam, der in der kurdischen Familie von Yesmin zumindest präsent ist? Wo hätten sie sonst die Verschleierung her, die ihrem Video von dem R.E.M.-Song erst die Pointe verleiht?

Coming of Age, aber anders

Als Sonne im Februar dieses Jahres auf der Berlinale Premiere hatte, fiel zuerst einmal das Format auf: ein Film, der nicht die Breite der Leinwand füllt, sondern der sich an das geläufige Bild der Smartphone-Generation anpasst. Auch das ein Aspekt von oben und unten – das virale Video von Yesmin und ihren Freundinnen steht in der klassischen Bildwirklichkeit des Kinos quer, es ragt heraus, es richtet sich auf.

Kurdwin Ayub hat mit Sonne den ersten Film gemacht, der zugleich genuin Kino ist und doch die heutigen Zirkulationsformen von Bewegtbildern konsequent ernst nimmt. Das ist nicht der einzige Brückenschlag: In nahezu jeder Hinsicht hat Sonne es mit widersprüchlichen Wirklichkeiten zu tun und findet doch jederzeit Wege, diese Widersprüche auszuhalten. Da können die jungen Frauen ausgelassen twerken – und doch spielerisch auf traditionellere Identifikationen eingehen. Da können sie "religionskritisch" berühmt werden – und sich davon paradoxerweise zu ihren ursprünglichen Gemeinschaften zurückführen lassen.

Erzählungen vom Erwachsenwerden, von der Abgrenzung von der Familie, vom Finden der eigenen Identität sind im Kino als ein eigenes Genre gut eingeführt: Coming of Age heißt das in der Sprache der Rubrizierungen, mit denen Filme auf Festivals in Slots gesteckt oder später vermarktet werden sollen. Aber kaum noch hat jemand bisher dieses Heranwachsen mit seinen veränderten Medienbedingungen wirklich ernst genommen.

Es ist zwar inzwischen geläufig, dass Chatnachrichten im Bild auftauchen, es wird sogar ab und zu regelrecht geschrieben, während die Handlung weiterläuft. Aber eine so dicht verwobene Oberfläche für das Leben, wie man sie in Sonne zu sehen bekommt, gab es bisher noch nie: Denn der Blick in die Welt und der Blick auf die Geräte sind kaum zu unterscheiden.

Kollektiv autobiografisch

Paradoxerweise führt Sonne aber mit diesem Hyperrealismus nicht in eine Richtung, die zu einem Medienpessimismus (Bilderflut! Überforderung! Konzentrationsverlust!) führen würde, sondern es entsteht tatsächlich so etwas wie eine neue Idee von Kino. Und auch die Erlebnisse der drei Protagonistinnen deuten an, dass es Ayub um eine vielfache Neukonfiguration von (medialen wie "essenziellen") Identitäten geht.

Sie schließt dabei an ihre dokumentarischen Arbeiten mit der eigenen Familie an, bleibt also auf eine vermittelte Weise kollektiv autobiografisch und öffnet für Yesmin und ihre Freundinnen einen Bezugsraum, der zugleich Pop und Tradition ist. Sonne wurde auf der diesjährigen Berlinale mit dem Preis für das beste Debüt ausgezeichnet. Für ihre Kurzfilme sowie ihre Dokumentation Paradise! Paradise! gewann die 1990 im Irak geborene und in Wien lebende Regisseurin Preise.

Die klassische Frage nach den Wurzeln, die gerade bei Kurdwin Ayubs Vater eine große Rolle spielt, löst sich in der Vielstimmigkeit nicht auf, von der Sonne geprägt ist. Sie bekommt aber eben eine neue Form: eine Vielfalt an Bezügen, die es auch ermöglicht, neue Wurzeln zu schlagen. (Bert Rebhandl, 7.9.2022)