Liz Truss ist die 15. Premierministerin von Königin Elizabeth, aber deren erste, die nicht im Buckingham-Palast angelobt wurde.

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Nach ihrer offiziellen Ernennung durch Queen Elizabeth II hat Liz Truss am Dienstagnachmittag die Arbeit als neue Premierministerin Großbritanniens aufgenommen. Tags zuvor war die 47-Jährige von den Konservativen als neue Parteichefin und damit Nachfolgerin von Boris Johnson im höchsten Regierungsamt gewählt worden. Diese Woche noch will Truss ein überfälliges Entlastungspaket für Bürgerinnen und Unternehmen vorlegen, die von massiven Kostensteigerungen für Strom und Gas bedroht sind. Bis zu 151 Milliarden Euro soll es den Fiskus kosten.

In ihrer ersten Rede vor ihrem Amtssitz in der Londoner Downing Street hat Truss an den Zusammenhalt der Britinnen und Briten appelliert. Der Konvoi der 47-Jährigen musste – nach der Landung des aus Schottland kommenden Flugzeuges – erhebliche Umwege durch den Londoner Feierabendverkehr machen. Nur so schaffte es Truss, ihre vierminütige Ansprache zu halten. Angesichts der Energiekrise, der steigenden Lebenshaltungskosten sowie des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine zeigte sich die Premierministerin zuversichtlich, dass das Land die Probleme meistern werde: "Mag der Sturm auch stark sein: Die Briten sind stärker."

Da war schon ein langer Tag hinter ihr gelegen. Zu Mittag empfing die zunehmend gebrechliche Königin (96) den scheidenden Regierungschef und seine Nachfolgerin zum ersten Mal in ihrer 70-jährigen Amtszeit nicht im Londoner Buckingham-Palast, sondern auf Schloss Balmoral in den schottischen Highlands. Truss teilt die Besonderheit dieser Berufung mit Lord Robert Salisbury, der 1885 in Balmoral den Regierungsauftrag von Queen Victoria erhielt. Salisbury diente mit zwei Unterbrechungen insgesamt 13 Jahre als Premierminister – eine Ausdauer, die keine seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger nachahmen konnte.

Sechs lebende Ex-Premiers

Auf drei Jahre und zwei Monate hat es Truss’ Vorgänger Johnson gebracht. Die Downing Street wurde teils von der Morgensonne beschienen, als der 58-Jährige gegen 7.30 Uhr an das im Schatten liegende Rednerpult trat. Freilich war in der kurzen Ansprache viel von sonnigen Errungenschaften die Rede. Mit keinem Wort ging Johnson auf die vielen Lockdownpartys ein, die ihn das Vertrauen von Wählerschaft und Unterhausfraktion kosteten.

Im Gegenteil: Bitter bis zuletzt machte der scheidende Premier eine "Regeländerung" dafür verantwortlich, dass ihm trotz eindeutigen Wahlsiegs 2019 keine ganze Legislaturperiode vergönnt war. Dabei redete der gelernte Journalist populistischen Unsinn, von Regeländerung keine Spur: Anders als die Präsidialdemokratien USA und Frankreich hat das Königreich ein parlamentarisches System. Wer die Unterstützung seiner Fraktion im Unterhaus verliert, muss zurücktreten.

Über solche und ähnliche Schwierigkeiten ihres neuen Amtes kann sich Truss nicht nur – eine historisch beispiellose Situation – mit sechs lebenden Ex-Premiers, allesamt unter 80 Jahre alt, austauschen; sie muss auch mit der Anwesenheit ihrer beiden unmittelbaren Vorgänger, Johnson und Theresa May, auf den Hinterbänken der Fraktion fertig werden.

Der scheidende Premier neckte seine Nachfolgerin sogar mit dem Hinweis auf ein mögliches Comeback: Er kehre wie einst der römische Konsul Cincinnatus nach getaner Arbeit "an den Pflug zurück", teilte der Altphilologe mit. Es dauerte nicht lang, bis die Lexika-Einträge über den Staatsmann des fünften Jahrhunderts v. Chr. studiert waren: Der Muster-Republikaner Cincinnatus diente, vom römischen Senat berufen, zweimal als Diktator.

Wie vom Personenschutz verlangt, flogen Johnson und dessen Gattin Carrie sowie Truss mit ihrem Mann Hugh O’Leary in separaten Regierungsfliegern nach Aberdeen, gut 70 Kilometer von Balmoral entfernt. Dass der Regierungsweg nicht immer in gerader Linie verläuft, erfuhr die neue Chefin dabei am eigenen Leib: Wegen anhaltenden Nebels über der Ölstadt im Nordosten musste Truss’ Flugzeug mehrere Schleifen drehen.

Preisdeckel bis 2024?

Hingegen hat sich der Nebel gelichtet, der bisher die Reaktion der neuen Regierung auf die schwere Energiekostenkrise umgab. Übereinstimmenden Medienberichten zufolge sollen die Preise für Strom und Gas auf derzeitigem Niveau eingefroren und mindestens über den Winter, womöglich gar bis ins Wahljahr 2024, gehalten werden. Dem bisher geltenden Preisdeckel zufolge wären die Kosten für durchschnittliche Privathaushalte Anfang Oktober um bis zu 80 Prozent in die Höhe geschnellt. Für Geschäfte und Unternehmen, die keine Preisbegrenzung in Anspruch nehmen können, war sogar von Steigerungen bis zu 1.000 Prozent die Rede.

Stattdessen sollen die privaten Energieversorger von der Regierung unterstützt werden – mit der Auflage, die Subvention unmittelbar an die Konsumenten weiterzureichen. Damit einher geht eine massive Neuverschuldung des Königreichs, vom neuen Schatzkanzler Kwarteng verschämt als "fiskalische Lockerung" beschrieben.

Truss holt enge Vertraute ins Kabinett

Später am Abend besetzte die Premierministerin die wichtigsten Kabinettsposten. Gesundheitsministerin und Vizepremier wird Thérèse Coffey, Truss’ engste politische Weggefährtin. Das Finanzressort übernimmt Kwasi Kwarteng, Innenministerin wird Suella Braverman.

Truss’ Nachfolge im Außenamt tritt James Cleverly an. Damit sind die drei klassischen Kernressorts mit Angehörigen ethnischer Minderheiten besetzt. (Sebastian Borger aus London, 6.9.2022)