Im Vorfeld der Ernennung eines neuen Kabinetts in Großbritannien gab es hitzige Diskussionen: Aus verschiedenen Richtungen hieß es, die neue Premierministerin Liz Truss müsse nach dem brutalen innerparteilichen Kampf um die Macht die Tory-Partei zusammenführen, das Kabinett nicht wie ihr Vorgänger nur mit engen Weggefährten und harten Rechten füllen. Die Besetzungen der Ministerposten am Dienstagabend verdeutlichen, dass die 47-Jährige die Ratschläge ignoriert hat. Die neue Ministerschar ist unerfahren, aber loyal; die einzige Überlebende aus dem letzten Kabinett von David Cameron (2010–2016) ist die Regierungschefin selbst.
- Als Vizepremier und Gesundheitsministerin berief Truss ihre engste politische Freundin Thérèse Coffey. Die promovierte Chemikerin, 50, diente zuvor geräuschlos als Arbeitsministerin; ihr neues Ressort gehört zu den Prioritäten der neuen Regierung, weil die Ineffizienz und Überforderung des Nationalen Gesundheitssystems NHS die Briten zunehmend ungeduldig werden lässt.
- Das Schatzkanzleramt (Finanzministerium) übernimmt Kwasi Kwarteng. Der bisherige Wirtschaftsminister zieht damit – nach drei asiatischstämmigen Briten – als erster Schwarzer ins zweitwichtigste Regierungsamt mit Dienstsitz in der Downing Street Nummer elf ein. Kwarteng ist nicht nur gleich alt wie die Chefin und deren ideologischer Weggefährte; seit Jahresbeginn wohnte er auch im bürgerlichen Londoner Stadtteil Greenwich in der gleichen Straße wie Familie Truss. Die neue Regierung werde, hat der promovierte Wirtschaftshistoriker in der "Financial Times" geschrieben, "fiskalisch verantwortungsvoll" handeln, anders als es Truss' haltlose Versprechungen im Wahlkampf suggerierten.
- Das Innenministerium leitet Suella Braverman. Die Juristin indisch-afrikanischer Abstammung diente zuletzt als Generalstaatsanwältin. Vor allem aber gehört sie zu den Brexit-Ultras – ein zweijähriger Aufenthalt in Paris als Studentin resultierte nicht in Liebe zum europäischen Einigungsprojekt. Falls möglich, dürfte Braverman ihre umstrittene Vorgängerin Priti Patel in der Härte gegenüber Asylbewerbern und Wirtschaftsimmigranten übertreffen. Ihre juristischen Expertisen deckten nicht nur Patels umstrittene Abschiebungspolitik von Flüchtlingen nach Ruanda; auch den geplanten Bruch des EU-Austrittsvertrags hält die 42-Jährige für rechtens.
- Vor seiner Berufung ins Bildungsministerium hatte sich James Cleverly nicht nur auf diversen Posten im Foreign Office bewährt. Der Reserveoffizier galt auch als "Medienminister", musste also der Öffentlichkeit häufig Boris Johnsons erratisches Regierungshandeln erläutern. Als neuer Außenminister wird er wie Truss das etwas vage Konzept eines "globalen Britannien" im In- und Ausland predigen. Der Sohn einer Krankenschwester aus Sierra Leone und eines weißen Engländers vervollständigt das Trio der Angehörigen ethnischer Minderheiten in den Kernressorts des Kabinetts – ein neuer Meilenstein für die Integration, den die Konservativen gewiss bei jeder Gelegenheit der vergleichsweise homogenen Labour-Opposition um die Ohren schlagen werden.
- Hingegen bleibt ein weißer Mann im Amt als Verteidigungsminister. Ben Wallace hat sich beim überstürzten Rückzug der britischen Armee aus Afghanistan sowie in der Hilfe für die Ukraine nach dem russischen Überfall bewährt. Kurzzeitig galt der frühere Hauptmann, 52, sogar als Anwärter auf die Johnson-Nachfolge, entschloss sich aber dazu, auf seinem Posten auszuharren, um die Solidarität mit Kiew auch personell zu dokumentieren.
- Die wichtige Rolle als Fraktionsgeschäftsführerin ("Chief Whip", also Chefeinpeitscher) übernimmt Wendy Morton, eine weitere enge Vertraute der neuen Regierungschefin. Die 54-Jährige amtiert als erste Frau in der wichtigen Scharnierfunktion zwischen Fraktion und Regierung; sie wird neben Durchsetzungsvermögen auch Fingerspitzengefühl benötigen, um die vielen Truss-Skeptiker in den konservativen Reihen bei Laune zu halten.
- Als Minister im Kabinettsbüro soll Nadhim Zahawi die Arbeit der unterschiedlichen Ressorts koordinieren. Der frühere Bildungsminister machte im Juli von sich reden, als Ex-Premier Johnson ihn zum Schatzkanzler ernannte. Einen Tag später gehörte Zahawi zu den mehr als 60 Ministern und Staatssekretären, die den Chef zur Demission aufforderten – Voraussetzung für Liz Truss' Aufstieg ins höchste Regierungsamt.
- Wirtschaftsminister wird Jacob Rees-Mogg, einer breiteren Öffentlichkeit durch sein gelangweiltes Fläzen auf der Regierungsbank bekannt. Nach der Brexit-Entscheidung verlegte die Finanzfirma des mehrfachen Millionärs flugs ihren Sitz nach Dublin, um weiterhin die Wohltaten des Binnenmarktes in Anspruch nehmen zu können; politisch gehört der katholische Vater von sechs Kindern zu den Brexit-Ultras. Hinter dem Habitus des als "Abgeordneter für das 18. Jahrhundert" verspotteten 53-Jährigen steckt ein politisch kluger, knallhart ideologischer Kopf. (Sebastian Borger aus London, 7.9.2022)