Pirschen vor dem Drehzylinder: Eines von vier weiblichen "Kindern unserer Zeit" (Katharina Klar) auf dem Weg in den moralischen Bankrott.

Foto: Moritz Schell

In Ödön von Horváths letztem Roman Ein Kind unserer Zeit bittet der Autor einen besonders aussichtslosen Fall vor den Vorhang. Die Verlustanzeige, die der in Paris 1938 von einem herabfallenden Ast erschlagene Dichter kurz vor seinem Tod aufgegeben hat, betrifft nicht den Einzelnen. Sie meint auch nicht den mündigen Bürger, der aus freier Entscheidung, womöglich mit Vorsatz, die schwersten Verbrechen begeht. Kein Wunder, dass jetzt im Wiener Josefstadt-Theater, dem Ort der aktuellen Romandramatisierung, dem einfachen "Kind" das rare Wunder einer Vervierfachung zuteil geworden ist.

Im Mittelpunkt der Bestandaufnahme steht, rein prosatechnisch, die erste Person Singular. Gemeint ist jedoch immer der Plural: das Heer jener Nazi-Mitläufer, die aus Wirtschaftsnot und Seelenpein ihr Einzelschicksal mit dem der "Volksgemeinschaft" verquicken. Denen der Militärdienst Halt verleiht. Denn das Erwerbsleben mit seinen Risiken und Nebenwirkungen stellt sie vor unlösbare Probleme.

Regisseurin Stephanie Mohr ist bereits seit einiger Zeit mit der Dechiffrierung von Horváths Rätseln beschäftigt. Das "Kind unserer Zeit" wird Soldat. Es marschiert in ein "kleines Land" ein und lässt sich dabei allerlei zuschulden kommen. Im Josefstadt-Theater erleidet der Ich-Held jetzt ein weiteres Martyrium. Er findet sich als Mitglied eines Damenquartetts in und vor einem expressionistischen Drehzylinder wieder (Ausstattung: Miriam Busch).

Verkrüppeltes Bäumchen

Ein bandagiertes Krüppelbäumchen bildet, mit Grüßen an Brecht, den Mittelpunkt einer gründlich verfehlten Schöpfung. Die wunderbare Therese Affolter bekennt ohne Umschweife, "gerne" Soldat zu sein. Sofort gehen Horváths Sätze, diese unbeholfenen Kalenderweisheiten, im Kreis reihum.

Im gar nicht züchtigen Look einer offenbar demoralisierten Volksarmee schleudern die Schauspielerinnen Unflat heraus: Sentenzen, die ob ihrer traurigen Aktualität ("Wir führen keine Kriege, wir säubern ja nur") jeden furchtbar erschaudern lassen. Aber recht bald stellt sich beim Betrachter ein Gefühl von Sättigung ein. Die Banalität des "kleinen Mannes" wird zum kunstgewerblichen Fanal. Die vier Damen sind die nachgeborenen Schwestern des armen Woyzeck; als solche dürfen sie Widersacher und Quälgeister mimen, oder einen Hauptmann (Affolter), der, von der Mörderpraxis an der Front angewidert, stocksteif in den Kugelhagel torkelt.

Zu den Tücken von Horváths Figurenrede gehört nicht zuletzt deren grämlicher Frauenhass. Der Erzähler rühmt sich seiner erotischen Heldengesinnung, die er am Rummelplatz, gegenüber der Kassiererin des "verwunschenen Schlosses", umso schmerzlicher vermissen lässt. Lauter rührende Hilflosigkeiten. Doch in diesem bestenfalls halbszenisch zu nennenden Oratorium gerinnen Posen zu hübschen Bildern: etwa wenn die Hand der Angebeteten (Martina Stilp) aus dem Kassenhäuschen schlüpft und eine unsichtbare Harfe zu schlagen scheint.

Grell beleuchteter Spiegel

Es passieren Denkwürdigkeiten: Wenn der Kriegsheimkehrer der Witwe (Susa Meyer) seines Hauptmanns beiwohnt. Wenn in einer furchtbaren Szene der Selbsterkenntnis das Schicksal den Kriegsversehrten vor einen grell beleuchteten Zerrspiegel bringt: Erkenne dich selbst.

Die schmuddeligen Hosen fallen (Katharina Klar), das Elend scheint ein schlechthin Menschliches: ob nun 1936 die Faschisten in Spanien ihr Unwesen treiben, ob Putin 2022 die Ukraine überfällt. Es fehlt diesem bedeutungsschweren Abend – voll mit Blindtüren und ausgebrannten Flipperautomaten – das vereinheitlichende Zentrum: das, was man früher einmal die Analyse der herrschenden Verhältnisse nannte, der einstigen wie auch der unschönen jetzigen.

Ersetzt wurde eine solche durch braves Aufsagetheater, versehen mit dem Mehrwert seelischer Empfindsamkeit. Das "Kind unserer Zeit" überlebt sich selbst: erfroren unter einer Schneedecke im Park, ein mahnendes Schrecknis den Kindern aller Zeiten und Epochen. Den Beteiligten wurde ob der tadellosen handwerklichen Leistung viel Applaus gezollt. Was jedoch hat der arme Horváth den Theaterleuten getan, dass man so viele seiner Stücke links liegen lässt, um sich an einem seiner Romane, so wie hier, zu verheben? (Ronald Pohl, 7.9.2022)