Liz Truss gilt als angriffslustig – auch gegenüber Verbündeten – und als Hardlinerin gegenüber Russland.

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In der Downing Street stauten sich die Minister und Ministerinnen, die in den Abendstunden des Dienstags zum obligatorischen Ernennungsgespräch mit der neuen Premierministerin erschienen waren. Drinnen machte die bisherige Außenministerin Liz Truss ihre ersten außenpolitischen Schritte im neuen Job. Gewiss waren die Gesprächspartner ihrer ersten beiden Telefonate nicht zufällig ausgewählt: der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyi und US-Präsident Joe Biden.

Gegenüber Russland hat Truss von Anfang an eine ähnlich harte Linie gefahren wie ihr Vorgänger Boris Johnson; ein Besuch in Moskau im Februar, von dem ihr die Spezialisten im Foreign Office abgeraten hatten, endete in einem nutzlosen Showdown mit ihrem erfahrenen Pendant Sergei Lawrow. Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine beharrt Truss auf die Wiederherstellung der Grenzen von 2014, also unter Einschluss der Krim-Halbinsel. Weder die Amerikaner noch die EU seien so weit gegangen, kommentiert John Kampfner vom Außenpolitik-Thinktank Chatham House.

Wenige Verbündete

Mit dem häufigen Kiew-Besucher Johnson verband Selenskyi eine auch persönlich warme Beziehung; der Präsident nutzte das Telefonat zu einer Einladung an Truss, die diese "hocherfreut" annahm. Im "besonderen Verhältnis" (special relationship) zu Washington hat es zuletzt vernehmlich geknirscht. US-Außenminister Antony Blinken musste sich neulich von seiner damaligen Kollegin auf Defizite in der Zusammenarbeit aufmerksam machen lassen. Im März erzwang Truss gegen den Einspruch der Amerikaner einen Deal mit dem Iran, der die Freilassung der von Teheran als Geisel festgehaltenen Nazenin Zaghari-Ratcliffe ermöglichte.

Ein Problem für die rechte Konservative sei, analysiert Sunder Katwala vom Labour-nahen Thinktank British Future, dass sie weder in der Administration des Demokraten Biden noch im deutschen Kanzleramt des Sozialdemokraten Olaf Scholz oder in Emmanuel Macrons Élysée-Palast "natürliche Verbündete" vorfindet. Extrem eng arbeiteten die Tories in den vergangenen Jahren mit der konservativen Regierung von Australien zusammen; seit Scott Morrisons Wahlniederlage regiert in Canberra eine Labor-Regierung.

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DER STANDARD

"Instinktpolitikerin" Truss

Truss-Kennerin Katy Balls vom konservativen "Spectator"-Magazin hält die neue Regierungschefin für "eine Instinktpolitikerin, ob man das gut findet oder schlecht". Schlecht, nämlich "nichtssagend" fand die "Times"-Außenpolitikspezialistin Catherine Philp eine Grundsatzrede der knapp ein Jahr amtierenden Außenministerin vor wenigen Monaten. Darin war von "Netzwerken der Freiheit" die Rede, vom "globalen Britannien" und von dessen größerer Fokussierung auf ferne Weltregionen wie den Indopazifik. "Zum Vorschein kam ein Schwarz-Weiß-Denken, das vielen Staaten der Erde nicht gerecht wird", glaubt Philp.

Im Wahlkampf hat die Kandidatin gewaltige neue Rüstungsausgaben angekündigt: Bis 2030 solle die Insel mindestens drei Prozent des Nationaleinkommens für die Verteidigung ausgeben. Zwar sind die wirtschaftlichen Aussichten für die kommenden Jahre wenig rosig; dennoch dürften Investitionen von rund 150 Milliarden Pfund fällig werden, wie der anerkannte Thinktank Rusi errechnet hat. Gegen Aggressoren helfe nur die Sprache der Stärke, ist Truss überzeugt.

Nordirland-Frage

Die gleiche Rhetorik hat sie im innerparteilichen Wahlkampf bezüglich der EU angewandt, mit der die Brexit-Insel seit dem Austritt im Dauerstreit liegt. Als Außenministerin war die Engländerin auch Chefverhandlerin mit Brüssel über das leidige Problem der zukünftigen Handelsbeziehungen. Als Teil des Austrittsvertrages hatte Johnson dem Nordirland-Protokoll zugestimmt: Um den Frieden auf der grünen Insel nicht zu gefährden, bleibt der irische Teil des Königreiches im EU-Binnenmarkt, was etliche Zoll- und Veterinärkontrollen zwischen der britischen Insel und Nordirland erzwingt.

Diesen Teil der Vereinbarung will die Regierung aufkündigen, ein von Truss entworfenes Gesetz liegt derzeit im Oberhaus. Weil dadurch ein "geladener Revolver" auf dem Tisch liege, hat die EU alle Verhandlungen mit London auf Eis gelegt. Gebannt schauen die Diplomaten beider Seiten auf nächste Woche: Spätestens am 15. September müssen neue Übergangsregeln zwischen den Partnern vereinbart werden – oder Truss setzt das Nordirland-Protokoll zeitweilig aus, was weiteren Streit zur Folge hätte. Nach positiven Signalen in den jüngsten Tagen besteht in Brüssel und Dublin Hoffnung, die neue Regierungschefin werde einem Handelskonflikt aus dem Weg gehen. "Ich freue mich auf enge Kooperation und frühzeitigen Kontakt", schrieb der irische Premier Micheál Martin seiner neuen Kollegin.

USA warnen Truss vor einseitigen Änderungen am Brexit-Vertrag

Die USA warnen die neue britische Premierministerin Liz Truss vor einseitigen Veränderungen am Brexit-Vertrag mit der Europäischen Union. Jeder Versuch, das Nordirland-Abkommen zu unterlaufen, werde sich negativ auf die Gespräche über ein Handelsabkommen zwischen Großbritannien und den USA auswirken, erklärte die Pressesprecherin der US-Regierung, Karine Jean-Pierre, am Mittwoch.

Truss hatte am Mittwochabend in einem Telefonat mit Kanzler Olaf Scholz auf eine Lösung im Streit um das Nordirland-Protokoll gedrungen. Am Dienstag hatte US-Präsident Joe Biden nach Angaben des Präsidialamtes in einem Telefonat mit Truss darauf gepocht, den Frieden in Nordirland zu wahren und mit der EU einen Kompromiss auszuhandeln.

Wenige Besuche im Terminkalender

Tatsächlich ist in London von einer baldigen Stippvisite in der irischen Hauptstadt die Rede. Auf jeden Fall will Truss in diesem Monat zur UN-Vollversammlung nach New York fliegen und dort, wenn möglich, Präsident Biden treffen. Hingegen stehen Besuche bei den wichtigsten europäischen Freunden einstweilen nicht im Kalender – vielleicht weil sich Truss nicht sicher ist, ob es sich wirklich um Freunde oder etwa um Feinde handelt. Auf Macron bezogen fand die Premierministerin in spe Ende August die Formulierung, da sei "das Urteil noch nicht gesprochen". Sie werde den Repräsentanten eines der ältesten Verbündeten Großbritanniens, nicht zuletzt auch eines Waffenbruders aus zwei Weltkriegen, "an dessen Taten messen, nicht an Worten".

Ähnlich werden es all jene halten, die mit Argusaugen auf die britische Klimapolitik schauen. Vorgänger Johnson hielt an ambitionierten Vorgaben zur Entkarbonisierung der Wirtschaft fest, bestärkt vom persönlichen Einfluss seines Vaters Stanley und seiner Frau Carrie, beide überzeugte Ökologen. Truss hat zwar den Chef der jüngsten UN-Klimakonferenz, Alok Sharma, erneut ins Kabinett berufen; Wirtschaftsminister aber ist Jacob Rees-Mogg, der Klimapolitik nur so lang gutfindet, wie sie Bürgern und Unternehmen keine Kosten abverlangt. (Sebastian Borger aus London, APA, 7.9.2022)