In den fernen Achtzigerjahren fanden einmal die Wahlen zum Nationalrat und die Wahlen zum Wiener Landtag gleichzeitig statt. Ich wählte damals an einem einzigen Tag drei verschiedene Parteien: im Bund die SPÖ unter Bruno Kreisky, in der Bundeshauptstadt die ÖVP unter ihrem damaligen Wiener Obmann Erhard Busek und im Bezirk die neu gegründete Grüne Alternative, angeführt von Freda Meissner-Blau. Ich war nicht die Einzige. Alle diese Parteien verzeichneten damals deutliche Zugewinne. Viele Wahlberechtigte hatten offenkundig mehr Vertrauen in einzelne Persönlichkeiten gesetzt als in Parteien und deren Programme.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen.
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Das ist ein Trend, der sich seither fortgesetzt und verstärkt hat. Bei der kommenden Tiroler Landtagswahl tritt die bisher stärkste Partei im Lande nicht unter dem Namen ÖVP an, sondern unter dem Namen Liste Mattle. In Frankreich spricht niemand von der Partei La République en Marche, sondern von der Partei des Staatspräsidenten Emmanuel Macron. In Italien beherrschen ebenfalls die Namen der diversen politischen Anführer die Diskussion und nicht die Bezeichnungen für deren Parteien.

Und bei der in Österreich anstehenden Bundespräsidentenwahl wird der Amtsinhaber Alexander Van der Bellen trotz seiner Vergangenheit als Parteichef vom Durchschnittsösterreicher längst nicht mehr als Partei-Grüner wahrgenommen, sondern als ein integrer Mann mit bürgerlichen Manieren, einem sozialen Gewissen, einem Sinn für Humor und einem Hund.

Unabdingbare Funktion

Nun ist die Bundespräsidentenwahl seit jeher eine Persönlichkeitswahl, schließlich soll der Gewählte am Ende der Repräsentant aller Österreicher und Österreicherinnen sein und nicht nur der Vertreter seiner eigenen Gesinnungsgemeinschaft. Trotzdem ist es ein Novum, dass diesmal unter den sieben Männern, die auf dem Stimmzettel stehen werden, nur ein einziger – Walter Rosenkranz – der offizielle Kandidat einer Partei, nämlich der FPÖ, ist. Alle anderen kandidieren als Unabhängige und bieten den Wählern und Wählerinnen nichts anderes an als ihre Persönlichkeit. Wer rechts steht und wer in erster Linie den Protest verkörpert, weiß man trotzdem.

In den USA hat der Spitzendiplomat George Kennan, ein Mitstreiter von Präsident John F. Kennedy, seine politische Position einmal so dargestellt: Er sei in der Wirtschaft ein Linker, in der Politik ein Liberaler und in der Kultur ein Konservativer. Solche und ähnliche Mischungen in seinen oder ihren politischen Ansichten wird mancher Wähler und manche Wählerin auch bei sich selbst feststellen. Dass sich, wie noch vor einigen Jahren, jemand als hundertprozentiger ÖVPler oder hundertprozentiger Sozialdemokrat sieht, ist nicht mehr selbstverständlich. Nicht einmal die FPÖ hat mehr ein Monopol auf die Vertretung der extremen Rechten.

Nach wie vor haben die Parteien eine unabdingbare Funktion in einer parlamentarischen Demokratie. Aber die Wahlberechtigten haben gelernt, genauer zu differenzieren und sich die jeweiligen Politiker genauer anzuschauen. Es sind in erster Linie Menschen, die Wahlen gewinnen oder verlieren. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 8.9.2022)