Bis zu 72 Stunden können Spermien nach dem Tod eines Mannes überleben. Innerhalb dieser Zeitspanne können sie theoretisch entnommen und für eine spätere künstliche Befruchtung konserviert werden.

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Es gibt einen Tag, der sich auf ewig in Baruch Ben Yigals Gedächtnis eingebrannt hat: der 12. Mai 2020. An diesem Morgen klingelt es um 6.30 an seiner Wohnungstür in Tel Aviv. Yigal öffnet die Tür, zwei Offiziere stehen vor ihm. Die Nachricht, die sie ihm überbringen, trifft ihn wie ein Schlag, der sein bisheriges Leben komplett umwirft: Sein 21-jähriger Sohn und einziges Kind Amit ist im Krieg ums Leben gekommen. Während eines Einsatzes im Westjordanland traf ihn ein großer Stein am Kopf, wird Yigal später vom israelischen Militär erfahren.

Yigal ist geschockt. Trotzdem weiß er binnen Minuten, was er tun muss. Er ordnet den Offizieren und den Ärztinnen an, die Spermien seines toten Sohnes zu entnehmen und zu konservieren. Yigal weiß, dass alles schnell gehen muss, damit er noch retten kann, was Amit eines Tages hinterlassen würde: einen biologischen Sohn oder eine biologische Tochter, der oder die aus seinen Spermien durch künstliche Befruchtung gezeugt wurde. "Mein Sohn ist zwar tot. Aber das wird mich nicht daran hindern, Großvater zu sein", sagt Yigal.

Sonderfall Israel

Einem Mann nach dem Tod Spermien zu entnehmen ist ein ungewöhnlicher Eingriff. In Ländern wie Italien, Schweden, Deutschland und Österreich ist die Samenspende nach dem Tod verboten. Die Begründung in Deutschland: Das Persönlichkeitsrecht und die Menschenwürde, die einem Menschen auch nach seinem Tod zustehen, würden verletzt. Das gilt auch für die Spermien, die schon vor dem Tod gespendet wurden. In Österreich muss ein Mann einer Samenspende grundsätzlich vorher schriftlich zustimmen.

Yigal kämpft darum, die Spermien seines Sohnes zur Spende freigeben zu können.
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In Israel ist die Situation jedoch eine andere. Dort erlaubt die Regierung Partnerinnen von verstorbenen Männern schon seit 2003, deren Spermien zu entnehmen und später durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden. Auch Eltern ließen den Eingriff in der Vergangenheit bereits bei ihren verstorbenen Söhnen durchführen. Bis zu 72 Stunden können die Spermien eines verstorbenen Mannes intakt bleiben. So viel Zeit bleibt den Angehörigen nach dem Tod, die Spermien durch einen Einschnitt in den Hoden entnehmen und in flüssigem Stickstoff einfrieren zu lassen.

Kompensation für Familien

Dass das Thema gerade in Israel groß ist, habe einen besonderen Grund: "Viele Familien haben ihre Söhne im Krieg verloren. Sie sehen es als ein Opfer für die Gesellschaft, für das ihnen eine Art Kompensation zusteht", sagt Irit Gunders.

Sie ist Leiterin der israelischen Organisation Or Lamishpachot, die Familien von verstorbenen Soldaten bei der Trauerbewältigung unterstützt. Unter den rund 1.500 Familien, die die Organisation derzeit betreut, gebe es 30 Fälle, in denen Eltern darauf warten, mit der Samenspende ihres verlorenen Sohnes eines Tages Großeltern zu werden, sagt Gunders.

Verstorbener lebt in Enkelkind weiter

Laut Gunders sei die Samenspende eine Chance für die Familien, wieder Hoffnung für ihr Leben zu finden. "Viele Eltern hören nach dem Tod ihres Sohnes auf zu arbeiten, trennen sich oder bleiben nur noch daheim", sagt Gunders. Zu wissen, dass ihr Sohn in ihrem Enkelkind auf eine Art weiterlebt und dass sie Großeltern werden, gebe vielen Halt, wieder mit dem Leben weiterzumachen.

Yigal hat das Zimmer, in dem sein Sohn Amit lebte, bevor er in den Krieg zog, seit dessen Tod nicht angerührt. An den Wänden hängen Bilder von Amit, seine Kleidung, sein Rucksack und seine Bücher liegen auf dem Bett verstreut. "Dieser Raum ist für mich wie ein Tempel. Niemand außer Amit darf hier schlafen", sagt er. Lediglich seinem Enkelkind möchte Yigal eines Tages seine Wohnung, alle Gegenstände Amits und die Erinnerung an ihn weitergeben.

Großes Interesse von Frauen

Doch seit zwei Jahren schlummern Amits Spermien nun in der Samenbank. An den möglichen Empfängerinnen liegt es nicht, dass Amit noch kein Kind hinterlassen hat. Nachdem Yigal im israelischen Fernsehen von seinem Wunsch, Großvater zu werden, erzählte, war das Interesse groß. 1.800 Frauen hätten sich seither auf Facebook bei ihm gemeldet, um zu sagen, dass sie mit Amits Spermien durch künstliche Befruchtung schwanger werden wollen. Darunter seien etwa 250 lesbische Paare, mehr als 40 Frauen aus den USA sowie mehrere Frauen aus Großbritannien, sagt Yigal. Mit 400 Frauen habe er bereits persönlich gesprochen.

Viele hätten etwa aufgrund ihrer Karriere bisher wenig Möglichkeit gehabt, einen geeigneten Partner zu finden, sagt Yigal. Oder es sei aufgrund anderer Umstände bisher nicht möglich gewesen, dass sie Kinder bekommen. Ein weiterer Grund für das rege Interesse ist laut Yigal: Amit sei in Israel ein nationaler Held, auf den die Familie und sein Kind eines Tages stolz sein können.

Langwieriger Prozess

Das Problem für Eltern wie Yigal ist jedoch, dass es für sie – anders als für die Partnerinnen der Verstorbenen – schwierig ist, die Spermien ihres Sohnes für die Samenspende freizugeben. "Eltern müssen meist durch einen langwierigen gerichtlichen Prozess gehen, der viel Geld kostet", sagt Gunders. Ein gerichtliches Urteil in Israel kam vor einigen Jahren zu dem Ergebnis, dass eine Samenspende eines verstorbenen Mannes nur weitergegeben werden dürfe, wenn entweder die ehemalige Lebensgefährtin zustimmt oder die Person vor ihrem Tod einen Kinderwunsch in einer Patientenverfügung niedergeschrieben hat.

"Genau da hapert es aber oft", sagt Allan Pacey, Professor für Männerheilkunde an der Universität Sheffield. "Viele Menschen wollen nicht daran denken, was passiert, wenn sie eines Tages sterben." Ohne die Zustimmung des Patienten sei ein Eingriff nach dem Tod aber in den meisten Fällen nicht möglich.

Kein "Recht, Großeltern zu werden"

Einen prominenten Fall gab es vor einigen Jahren am europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Dort hatte Petithory Lanzmann, Witwe des verstorbenen französischen Filmemachers Claude Lanzmann, Klage gegen eine Pariser Klinik eingereicht, da diese sich weigerte, ihr die Samenspende ihres verstorbenen Sohnes zur Verfügung zu stellen.

Laut Lanzmann habe ihr Sohn kurz vor seinem Krebstod einen Kinderwunsch geäußert. Sie wollte ihm diesen Kinderwunsch durch künstliche Befruchtung und Leihmutterschaft in einer israelischen Klinik erfüllen, sagte sie. Die Richter wiesen Lanzmanns Klage jedoch ab. Die Begründung: Artikel acht der Europäischen Menschenrechtskonvention garantiere zwar das Recht auf ein Familienleben. Dies umfasse aber nicht ausdrücklich ein "Recht, Großeltern zu werden".

Können Vater nie treffen

"Ich bin mir auch nicht sicher, ob Eltern die Entscheidung treffen sollten, die Samenspende ihrer Kinder zu nutzen, um Großeltern zu werden", sagt Pacey. Stattdessen sollte die Entscheidung lieber bei der ehemaligen Partnerin des Verstorbenen liegen. Dass das Thema in Israel überhaupt so stark diskutiert werde, hänge damit zusammen, dass das Land pronatalistisch sei, das heißt, die Familiengründung generell stark unterstützt wird, sagt Pacey.

In Israel regt sich seit einiger Zeit aber auch Kritik an dem Vorhaben. Manche befürchten etwa, dass den durch künstliche Befruchtung gezeugten Kindern ein Elternteil fehle und dies deren Identität und Entwicklung gefährden könnte. Ihren biologischen Vater könnten sie schließlich niemals treffen.

Kennen Familiengeschichte

Yigal kann die Kritik nicht nachvollziehen. Das Kind, das aus der Samenspende gezeugt würde, kenne nicht nur das Leben und die Geschichte seines Vaters, sondern hätte zudem eine Familie, die es unterstützt, sagt er. "Wenn Frauen zu einer Samenbank gehen, wissen die Kinder meist nicht einmal, wer ihr Vater ist." Auch die Entnahme der Samen nach dem Tod sei für ihn legitim: "Organe werden dem Toten ja auch entnommen. Warum sollte es bei Spermien nicht möglich sein?" Amit habe ihm vor seinem Tod mehrmals gesagt, dass er Vater sein und viele Kinder haben wolle.

Yigal will sich mit der derzeitigen Situation jedenfalls nicht zufriedengeben. Seit Monaten schreibt er E-Mails an Ministerinnen, tritt im Fernsehen auf und hat sich auf Facebook eine 50.000 Personen starke Followerschaft aufgebaut. Sein Engagement war teilweise bereits erfolgreich: Das israelische Parlament debattiert derzeit über einen Gesetzesentwurf, der regelt, dass Männer vor Antritt ihres Militärdienstes gefragt werden sollen, was mit ihren Spermien im Falle ihres Todes passieren soll. Stimmen sie der Entnahme und späteren Samenspende zu, sollen dadurch auch die Lebensgefährtin oder Eltern die Möglichkeit haben, ein Kind beziehungsweise Enkelkind mit der DNA des Verstorbenen zu bekommen.

Auch in anderen Staaten möglich

Gunders schätzt, dass das neue Gesetz schon in sechs Monaten abgesegnet sein könnte – abhängig davon, wie die Parlamentswahl in Israel am 1. November ausgeht. Ist der Entwurf erfolgreich, könne das auch Anreiz für andere Staaten sein, nachzuziehen. Denn letztlich könne die Samenspende nicht nur im Militär, sondern auch bei tödlich verunglückten Menschen überall auf der Welt eine Rolle spielen.

Yigal hat aus den hunderten Anfragen die potenziellen zukünftigen Mütter seines Enkelkindes schon ausgewählt. "Ich habe ihnen aber gesagt, dass sie nicht warten sollen, bis die Spende endlich möglich ist", sagt er. Seinen Sohn wird das alles nicht mehr zurückholen. Dafür aber würde es ihm ein Enkelkind schenken, das einen Teil von Amit in sich trägt, sagt er. "Dem Kind würde es an nichts fehlen. Ich würde ihm mein Leben geben." (Jakob Pallinger, 23.9.2022)