Es gehört viel mehr geschmust: Die meisten selbsternannten Kuschelbären gibt es laut deren Eigendefinition im Tinder-Profil der Dänen; die meisten Kuschelbärinnen sind in Wales zu Hause.

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Vor "Ich will" kommt "Ich würde gerne" – und wo ein Wille, da ein Weg. Aber wie weit ist man willens, für die große Liebe zu gehen? Für über 75 Millionen Menschen muss die Liebe in Klickdistanz sein, und so führt der Weg in den App Store, wobei es bei der Routenberechnung hier mehr um Verkehr als um Straße geht. Bei Gelegenheit bitte rechts swipen, so nämlich der Fahrplan von Tinder seit nunmehr zehn Jahren. Vor einer Dekade wurde die Dating-App veröffentlicht und bringt seitdem Singles mit Lust auf Abenteuer, solche, die auf der Suche nach der Destination Partnerschaft sind, und alles dazwischen sicher ans Ziel.

Tindern lernen

Am Montag feiert der weltweit erfolgreichste Algorithmus-Amor seinen zehnten Geburtstag. Tinder ist in 190 Ländern in mehr als 40 Sprachen verfügbar – und wurde mehr als 450 Millionen Mal heruntergeladen. Aus wie vielen Matches echte Partnerschaften wurden, ist zwar nicht überliefert, wie es mit dem Matching besser klappt, wurde in zig mehr oder weniger seriösen Studien aber akribisch aufgearbeitet. So strahlen Männer, die ihren Brustmuskel samt Sixpack präsentieren, weniger Kompetenz aus und werden seltener gematcht, surprise!

Von der Uni-App zur erfolgreichsten Dating-App der Welt in nur zehn Jahren.
Foto: Der STANDARD

Rund um die Suche nach Tinder-Liebe hat sich in den zehn Jahren das eine oder andere Geschäftsmodell entwickelt. Da wäre etwa Fabian Fangmann, bürgerlicher Name Fabian Grubler. Der Deutsche verspricht auf Tinderacademy.com höhere Erfolgschancen bei der geswipten Liebe. Der Besuch eines Onlinekurses soll ein Plus an Dates für die zahlenden Kunden herbeiführen, immerhin 197 Euro lässt man dabei für die erste Kursstufe liegen und stolze 397 Euro für Kursstufe 2.

Gendern ist bei den Studenten der Tinder Academy nicht nötig, der Service richtet sich exklusiv an Männer. Das meint Fangmann nicht böse – die Voraussetzungen für Männer und Frauen seien beim Tindern einfach anders. Männer bekämen teils gar keine oder nur sehr wenige Matches. Und sehr viele würden die Matches dann während des Chattens und noch vor dem ersten Date verlieren. Da könne man klarer analysieren. "Die Probleme von Frauen sind viel komplexer", sagt Fangmann und gibt ein Beispiel zur Problemstellung: "Warum finde ich nicht den Richtigen? Warum gerate ich immer an den Falschen?" Bis zu 150.000 Seitenaufrufe hat die Tinder Academy monatlich, genaue Kundenzahlen will Fangmann aber nicht verraten.

Vom Versuchskaninchen zum Bärchen

Das Curriculum der Tinder Academy ist ziemlich schnell erklärt: Den Tinderern wird im ersten Schritt zumeist geraten, neue Fotos für die Dating-App zu machen – ein zusätzlicher Service, der praktischerweise gegen 748 Euro von der Academy angeboten wird. "Überzeugende Körpersprache, selbstbewusster Ausdruck, Persönlichkeit – darauf kommt es bei Dating-Fotos an." Auf der Tinder-Academy-Webseite werden "überragende Ganzkörperfotos" angepriesen– so soll ein optimaler Kamerawinkel die bislang Glücklosen "maskuliner" wirken lassen.

Um mehr Matches zu bekommen, bietet die Tinder Academy derzeit zwei Videokurse und ein sogenanntes Tinder-Fotoshooting an.
Foto: tinderacademy.com

Dann folgt ein Videokurs für mehr Chat-Erfolg. 120 Einheiten hat der, sagt Fangmann. Dabei "Key": Die Eröffnung der Chat-Konversation. "Da braucht es Cliffhanger wie "Weißt du, Anna, eine Sache finde ich echt interessant an deinem Profil …" oder "Dein Profil verwirrt mich, Anna," meint Fangmann. 800 Textbausteine habe der Kurs in seinem Repertoire – wird Individualität damit zur Fleißarbeit? Fangmann verneint, die Textbausteine und Beispielphrasen seien eine Möglichkeit für Kunden, "ihren Humor und ihre Kreativität zu kultivieren. .Ein Schelm, wer zweifelt.

Drittes Erfolgsprinzip und damit Schulungsinhalt: Vermeiden, dass die Konversation im Sand verläuft. Necken und Rollenspiele seien effektiv, um das Interesse des Gegenübers zu wahren und faden Smalltalk zu vermeiden. Ein paar Beispieldialoge aus dem Tinder-Academy-Repertoire gefällig? Nun gut. "Du scheinst echt cool zu sein. Bist sicher so eine Frau, mit der man richtig Pferde stehlen kann, oder?" Sie: "Haha, echt? Mache ich so einen Eindruck. Aber ja, würde ich schon sagen." Er: "Cool. Hatte gleich so ein Bonny-&-Clyde Gefühl bei deinem Profil. ;-) Wir sollten echt mal gemeinsam eine Bank ausrauben. Bist sicher eine gute Fluchtwagenfahrerin. Oder siehst du deine Stärken eher im Ablenken der Wachen?" Die Jugendsprache hätte dafür einen treffenden Ausdruck gefunden: Cringe!

Ist er eine Zehn?

Ein wenig gemahnt der Service der Tinder Academy an die sektenhafte Vereinigung der rein männlichen Pick-up-Artists, eine merkwürdige Subkultur, die sich 2005 mit der PUA-Bibel "The Game" des Ex-Musikjournalisten Neill Strauss in den Mainstream verschob und Aufreißen mit schalen Sprüchen, Küchenpsychologie und gezielter Körpersprache zum Volkssport erhob. Diese zeichnen sich durch Manipulation, einstudierte Verhaltensmuster und psychologische Tricks aus. Fangmann ist aber beleidigt, wenn man sein Geschäftsmodell damit vergleicht: "Ich habe nichts mit Pick-up-Artists zu tun – und will damit auch nichts zu tun haben." Er wolle Männern einfach helfen, ihr Match zu finden, sagt er; manipulative Praktiken seien ein No-Go, obgleich es in der Coaching-Branche auch ein paar schwarze Schafe gibt.

Aber auch für Frauen gibt es ein Tinder-Hilfsangebot: das Buch "Tinder-Akademie" (diesmal mit "k") der beiden Österreicherinnen Ingrid Diem und Susanne Mathurin. "Das Buch war uns ein feministisches Anliegen", sagt Autorin und Sängerin Ingrid Diem. Die Zielgruppe sei 35+, heterosexuell und weiblich, so wie sie. Sie hätten sich nach dem Ende langjähriger Beziehungen beim Flirt auf Tinder etwas verloren gefühlt, erzählt Diem: "Es ist eine andere Datingwelt." Nun wollen Diem und Mathurin ihre Erfahrung und Tipps in ihrem Ratgeber weitergeben.

Das Buch "Tinder-Akademie" soll ein Mutmach-Ratgeber für Frauen sein. Die Message: Ja, du darfst das!
Foto: Amazon.de

"Es gibt nur tolle Dates im Single-Leben – oder tolle Erkenntnisse" wird das Buch auf Amazon gepriesen. Naiv? Diem findet nicht: "Es gibt nur tolle Lernerfahrungen. Wir sind keine Opfer, sondern machen es beim nächsten Mal anders." Nur ein Tipp: "Seit ich mal auf einem Date war und die Stimme des Mannes für mich gar nicht gepasst hat, lasse ich mir jetzt immer vorab eine Sprachnachricht schicken." Man müsse einfach ohne Erwartungshaltung an Tinder herangehen, so die Autorin. Primär arbeite man dabei nicht mit einem potenziellen Partner, sondern an sich selbst: "Was erwarte ich von einem Partner?" und "Was kann ich mir selbst geben?". Diese Denkweise verleihe eine gewisse Leichtigkeit, sagt Diem: "Mein Singleleben ist eine Neun, ein Mann, der dazustößt, müsste eine Zehn draus machen, aber sicher keine Acht oder Sieben." Das gelte fürs Leben – und im Speziellen auf Tinder.

Tindern im Namen der Wissenschaft

Dass das Wischverhalten auf Tinder oft ein Liebäugeln im Sekundentakt ist, findet Guido F. Gebauer, Psychologe bei der Partneragentur Gleichklang und Autor des Dating-Ratgebers " A Perfect Match? Online-Partnersuche aus psychologischer Sicht". "Die Entscheidung für das Swipen ist ein hochgradiger automatisierter Prozess, der vorwiegend signalgesteuert durch äußerliche Reize aufgerufen wird. Der positive Eindruck, der durch das Foto entsteht, ist also im Wesentlichen ein reiner körperlicher Attraktivitätseindruck." Diesen Fokus auf das Äußerliche können sich Verwenderinnen und Verwender zunutze machen, indem sie gewisse Reize forcieren oder vermeiden.

Im heterosexuellen Kontext werden Männer tendenziell von Fotos angesprochen, die Körperlichkeit und Feminität betonen. Wie Gebauer erklärt, sind Frauen hingegen eher von Bildern überzeugt, die Bildung, Erfolg und Verlässlichkeit signalisieren: "Auch Bilder mit Haustieren werden hier positiv bewertet, weil dies impliziert, dass die Person Verantwortung übernimmt". Eine Studie der Vet-Med-Uni Wien hat dieses Phänomen erforscht und ist zu der Erkenntnis gekommen, dass heterosexuelle Männer mit Hund als besonders maskulin und attraktiv wahrgenommen werden. Der Hund ist also nicht nur der beste Freund des Mannes, sondern auch ein effektiver Wingman.

Bilder: Top oder Flop

Um die richtigen Kontakte zu matchen und wiederum von dem/der Richtigen gematcht zu werden, ist eine geeignete Bildauswahl zielführend. Für den Psychologen Gebauer macht es die Mischung, eine "Kombination aus Selfie, Schnappschuss und kontextuellen Bildern ist am besten geeignet, einen authentischen Eindruck von einer Person und ihrem Alltag zu vermitteln". Von zwei Fotomotiven beziehungsweisen Fotokontexten rät Gebauer jedoch ab, Gruppenfotos und offensichtlich professionell vom Fotografen gemachte Fotos.

Professionelle Fotos stoßen nicht immer auf positive Resonanz, weil der Verdacht besteht, dass diese geschönt wurden. Bei Gruppenbildern ergeben sich zwei Problemherde. Sie signalisieren auf der einen Seite, dass das Bedürfnis nach Zweisamkeit nicht übermäßig ist, auf der anderen Seite könnte die Vertrauenswürdigkeit angezweifelt werden – à la "Hat er die Leute gefragt, bevor er das Foto für ein Dating-App benutzt?" oder "Würde Sie Fotos von mir auch einfach auf eine App hochladen?".

Tipps von der Fotografin

Fotografin Jenni Koller hat bereits für die Volksoper und die deutsche "Vogue'" fotografiert, weiß also, was ein gutes Bild ausmacht. Tipps, die sich quasi aus dem Allgemeinwissen ergeben und trotzdem zu oft in Vergessenheit geraten, sind zum Beispiel, kein direktes Sonnenlicht, weil die Lichteinstrahlung Schatten aufs Gesicht werfen kann. Oder am besten ein Outfit wählen, indem man sich wohlfühlt – das spürt man nämlich nicht nur, sondern sieht man auch.

Location ist bei Tinder zwar ein wichtiges Thema, primär wird aber eher an einen horizontalen Kontext gedacht. Dabei gibt es schon im Vorfeld bei den Profilbildern ein paar wesentliche Faktoren, auf welche man achten sollte. Koller erklärt, dass weniger bei Ortserkenntlichkeit mehr ist. "Die Bilder sollten nicht zeigen, wo man wohnt, und auch nicht unbedingt, wie". Betrügerischen Intentionen oder unangenehmen Situationen kann man so ein wenig vorbeugen.

Erzähl was über dich

Jus-Studium, Lehramtsstudium und BWL-Studium: Frauen mit diesen Abschlüssen erhalten laut einer Studie vom Online Marktplatz OnBuy.com die meisten Matches. Mit diesem Wissen wirkt das Schummeln beim Profiltext verführerisch, aber die Abkürzung kann zur Sackgasse werden. "Fake it 'til you make it" ist ein schlechter Rat, wenn es um die Tinder-Selbstbeschreibung geht. Ehrlichkeit ist die Devise – und am besten ungeschönt, so auch der Rat von Psychologe Gebauer: "Auf keinen Fall zu dem Mittel einer positiven Selbstdarstellung greifen. Studien zeigen, dass selbst kleine Unehrlichkeiten beim Online-Dating zu Missbilligung, negativen Gefühlen und einer reduzierten Bereitschaft des Gegenübers führen, den Kontakt zu vertiefen."

Die Bio ist auch ein guter Ort, um darauf einzugehen, was man auf der Plattform sucht, zum Beispiel Beziehung, ausschließlich intime Kontakte oder Freundschaft. Vor allem bei ernsthafter Partnersuche für eine Beziehung ist der Profiltext essenziell, und Gebauer empfiehlt die von Tinder zur Verfügung gestellte Textlänge auszuschöpfen. Ein uninspiriertes "Hallo" macht da keine Meter auf dem Weg zur großen Liebe.

Das verflixte zehnte Jahr

Seit zehn Jahren ist Tinder der denkbar schlechteste Ort für eine Links-rechts-Schwäche und der fast verpflichtende Boxenstopp auf dem Weg zum sexuellen Abenteuer. Wer einen Gang hochschalten will, kann die Plattform nutzen, um Betthupferl zum Mobilitätsthema zu machen oder sie als Fremdenführer für den ersten Schritt auf dem Weg zum Altar nutzen: Ich will oder würd gern. Hoch soll es leben, Swipes soll es geben, dreimal so viel. (Sophie M. Werner, 11.9.2022)