Die Frontlinie des Thwaites-Gletschers. Sie könnte sich in den nächsten Jahren deutlich schneller zurückziehen als vermutet, wie eine neue Studie zeigt.

AP / Robert Larter

Er zählt zu den größeren Gletschern der Welt und ist einer der am genauesten beobachteten "Hotspots" des Klimawandels: Der Thwaites-Gletscher im westlichen Teil der Antarktis, mit 192.000 Quadratkilometern Ausdehnung mehr als doppelt so groß wie Österreich, gehört zu den besonders schnell schmelzenden Eismassen des Planeten.

Damit nicht genug, hängt von ihm auch das Schicksal des gigantischen Westantarktisches Eisschilds ab: Sollte der Thwaites-Gletscher abschmelzen, was schon für sich genommen den Meeresspiegel um 65 Zentimeter erhöhen würde, könnten noch sehr viel gewaltigere Eismassen nachfließen. Diese Schlüsselrolle hat dem Gletscher den apokalyptischen Beinamen "Doomsday Glacier" eingetragen, also "Gletscher des Jüngsten Gerichts".

Beitrag zum Meeresspiegelanstieg

Ob diese Anspielung auf den Weltuntergang gar so gut gewählt ist, sei einmal dahingestellt. Tatsache ist, dass der Thwaites-Gletscher schon jetzt rund vier Prozent zum Anstieg des Meeresspiegels beiträgt. Doch das könnten sich in den nächsten Jahren deutlich erhöhen, wie eine neue Studie im Fachblatt "Nature Geoscience" zeigt: Neue unterseeische Erkundungen vor der 100 Kilometer breiten Eiszunge, die aus der Antarktis herausragt, lassen nämlich gar nichts Gutes erwarten.

Bereits frühere Studien der Gletscherunterseite, die seit 2020 im Detail erforscht wird, stimmten nicht gerade positiv: Die Erosion des Gletschers durch erwärmtes Meerwasser scheint stärker zu sein, als man bis dahin gedacht hatte. Die Wassertemperatur an der Grundlinie des Gletschers liegt nämlich mehr als zwei Grad über dem Gefrierpunkt und trägt zum beschleunigten Abschmelzen bei.

Unterseeische Untersuchungen

Nun hat ein Team um Alastair Graham (University of South Florida) mit einem ferngesteuerten U-Boot den Meeresgrund vor dem Gletscher untersucht, was nicht nur neue Schlüsse auf das Zurückweichen des Gletschers in den letzten Jahrhunderten zuließ, sondern auch bessere Prognosen für die nächsten Jahre möglich macht.

Mit diesem ferngesteuerten U-Boot wurden die Kartierungsarbeiten vor dem Thwaites-Gletscher durchgeführt.
Foto: Anna Wåhlin / Universität Göteborg

Konkret konzentrierten sich Graham und seine Kollegen auf eine als "The Bump" bezeichnete unterseeische Anhöhe etwa 45 Kilometer vor der aktuellen Gletscherfront. Auf diesem kleinen Vorgebirge, das in 600 Metern Tiefe liegt und 200 Meter aufragt, entdeckten sie hunderte parallele, meist weniger als 20 Zentimeter hohe Rippen. Diese entstanden entlang der damaligen Aufsetzlinie des Gletschers, denn die Vorderkante des Gletschers liegt nicht still: Durch Ebbe und Flut hebt sich das Eis vom Meeresboden und setzt wieder auf, was zu den Rippen führt.

Noch rascheres Zurückweichen

Weitere Analysen zeigten – und das ist das Hauptergebnis der Studie –, dass sich der Eisstrom über einen Zeitraum von knapp einem halben Jahr mit einer Geschwindigkeit von mehr als 2,1 km pro Jahr zurückzog, was den Forschenden besondere Sorgen bereitet: Denn das ist doppelt so schnell wie die Geschwindigkeit, die zwischen 2011 und 2019 im am schnellsten zurückweichenden Teil der Grundgebirgszone per Satellit beobachtet wurde.

Mit anderen Worten: Der Gletscher hat sich in jüngerer Vergangenheit schon sehr viel schneller zurückgezogen als zuletzt. Und aktuell scheinen die Ausgangsbedingung wieder recht ähnlich zu sein wie in dieser schnellen Abschmelzphase, als der Thwaites-Gletscher ebenfalls den Kontakt mit dem stützenden Untergrund verloren hat.

"Festkrallen mit den Fingernägeln"

Doch was bedeutet das alles? Für Mitautor Robert Larter vom British Antarctic Survey ist die Lage einigermaßen beunruhigend: In einem Interview für CNN sagte er recht anschaulich, dass sich der Thwaites-Gletscher nur noch mit den Fingernägeln festkrallen würde. Auch das dem eigentlichen Gletscher vorgelagerte Eisschelf sei bereits von Rissen durchzogen. Zerfällt es, würde das den Abschmelzprozess weiter beschleunigen.

Die neue Studie nährt jedenfalls die Sorge, dass der Gletscher deutlich dynamischer ist, als man ihm bisher zugetraut hat. Und das wieder könnte bedeuten, dass die pessimistischen Szenarien samt verheerendem Meeresspiegelanstieg früher eintreten könnten als erhofft. (tasch, 8.9.2022)