EZB-Chefin Lagarde muss sich intern zwischen den Falken, die auf stark und schnell steigende Zinsen drängen, und den Tauben, die für ein gemächlicheres Vorgehen sind, entscheiden.

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Die Europäische Zentralbank (EZB) hebt angesichts des zunehmenden Inflationsdrucks am Donnerstag zum zweiten Mal in diesem Jahr die Zinsen an. Ihre Schlüsselzinssätze werden um jeweils einen Dreiviertelprozentpunkt erhöht. Das ist die stärkste Anhebung der EZB seit 22 Jahren. Zudem kündigte die Notenbank weitere Zinsanhebungen bei ihren nächsten Sitzungen an.

Damit beträgt der Leitzins nun 1,25 Prozent und der Zinssatz für Bankeinlagen bei der Notenbank 0,75 Prozent. Somit ist zwar der Weg geebnet für höhere Sparzinsen, allerdings werden auch Kreditnehmer mit variablen Zinssätzen und bei neuen Ausleihungen tiefer in die Tasche greifen müssen.

"Der Preisdruck hat sich weiter verstärkt und an Breite gewonnen", sagte EZB-Chefin Christine Lagarde im Anschluss an die Zinsentscheidung. Die Inflation sei "viel zu hoch" und werden auch eine Zeit auf erhöhtem Niveau bleiben. Gleichzeitig werde die Wirtschaft der Eurozone in der zweiten Jahreshälfte an Schwung verlieren und rund um den Jahreswechsel stagnieren. Eine Rezession erwartet Lagarde nur, wenn die Gasversorgung aus Russland komplett zum Erliegen kommt.

Diskussionen in EZB-Spitze

Im Vorfeld hatten sich mehrere Währungshüter, darunter der niederländische Notenbankchef Klaas Knot, für einen großen Zinsschritt um einen Dreiviertelprozentpunkt starkgemacht. Der italienische EZB-Direktor Fabio Panetta und Griechenlands Notenbankchef Yannis Stournaras hatten Argumente für ein nicht so starkes Vorgehen vorgebracht. "Wir hatten unterschiedliche Ansichten am Tisch, eine gründliche Diskussion, aber das Ergebnis unserer Diskussionen war eine einstimmige Entscheidung", sagte Lagarde dazu.

"Jetzt kommt es darauf an, dass sie ihre Leitzinsen in den kommenden Monaten trotz steigender Rezessionsrisiken auch tatsächlich weiter kräftig anhebt", sagt Commerzbank-Chefvolkswirt Jörg Krämer. Andere Finanzprofis hatten sich schon im Vorfeld mehrheitlich für eine kräftige Erhöhung ausgesprochen, darunter Gilles Moëc, Chefökonom bei AXA Investment Managers. Er plädiert für eine rasche Anhebung der Zinssätze, selbst wenn die Eurozone dadurch in eine Rezession rutschen sollte: "Es ist klar, dass eine Rezession nicht als bloßer Nebeneffekt der notwendigen geldpolitischen Straffung gesehen werden darf, sondern als die einzige Lösung, um das Ziel zu erreichen."

Inflation auf Rekordwert

Die Notenbank ist in den vergangenen Wochen immer stärker unter Handlungsdruck geraten, weil die Inflation im Euroraum mit 9,1 Prozent im August einen neuen Rekordwert erreicht hat. Bis eine Änderung der Zinssätze ihre dämpfende Wirkung auf den Preisauftrieb entfaltet, wird es bis ins nächste Jahr dauern. Kurzfristig kann die EZB dadurch nur die sogenannte importierte Inflation dämpfen. Denn höhere Zinsen ziehen Kapital wie ein Magnet an, bereits im Vorfeld des Zinsschritts hat sich der Euro gegenüber dem US-Dollar von einem 20-Jahres-Tief erholt und wieder im Bereich der Parität stabilisiert. Waren aus dem Dollarraum und vor allem auch viele Rohstoffe werden bei einem schwachen Euro hierzulande teurer.

Weil die US-Notenbank Fed bisher wesentlich hemdsärmeliger gegen die Inflation vorgegangen ist und den Leitzins wegen der hohen Teuerung auf 2,5 Prozent hochgetrieben hat, hat die Gemeinschaftswährung gegenüber dem Dollar stark an Wert verloren. Wie stark der Effekt der importierten Inflation sein kann, zeigt sich am Beispiel Erdöl: Das in US-Dollar abgerechnete Nordseeöl Brent hat sich heuer um etwa elf Prozent verteuert, während der Preisanstieg in Euro mehr als 25 Prozent beträgt. Da Erdöl die Grundlage der Treibstoffpreise darstellt, hat dies auch einen entsprechend großen Einfluss auf die Inflationsrate.

Leizinsen künftig bei 2,5 Prozent

Mittelfristig rechnet man bei Raiffeisen Research mit einem Szenario einer fokussierten geldpolitischen Normalisierung in den leicht restriktiven Bereich. Soll heißen, ungeachtet der Konjunkturrisiken wird die Notenbank die Leitzinsen so weit anheben, dass sie die Wirtschaft nicht mehr unterstützen, sondern bremsen. Was in Zahlen bedeutet: Im laufenden Zinserhöhungszyklus erwarten die Analysten insgesamt eine Anhebung der Leitzinsen ausgehend von null auf zumindest 2,5 Prozent.

Sie gehen für nächstes Jahr von sechs Prozent Teuerung im Euroraum aus, die auch 2024 noch immer drei Prozent betragen soll. Auch die Kerninflation, bei der die derzeitigen Preistreiber aus dem Energiebereich sowie Nahrungsmittel ausgeklammert sind, soll nächstes Jahr an der Marke von fünf Prozent kratzen. "Damit zeigt sich eindeutig das mittelfristige Inflationsproblem in Europa in voller Schärfe", betonen die Raiffeisen-Analysten Gunther Deuber und Gottfried Steindl. (Alexander Hahn, 8.9.2022)