Carlsen (links) reiste nach der Niederlage gegen Niemann ab.

Foto: Saint Louis Chess Club/Fuller

Hat er, oder hat er nicht? Das fragt sich derzeit die ganze Schachwelt. "Er", das ist der US-amerikanische Shootingstar Hans Niemann, 19 Jahre jung, der beim Sinquefield Cup in St. Louis am vergangenen Sonntag in Runde drei sensationell Magnus Carlsen besiegte. Nicht die Weiß-Niederlage des Weltmeisters selbst erhitzt seither die Gemüter. Es ist vielmehr die Frage, ob Niemann bei dieser bisher größten Leistung seiner Karriere womöglich geschummelt hat.

Die Spekulationen nahmen Fahrt auf, nachdem Carlsen (31), der erst kürzlich verkündet hatte, seinen WM-Titel nicht mehr verteidigen zu wollen, am Montag überraschend seinen Rücktritt vom noch laufenden Sinquefield Cup per Twitter bekanntgegeben hatte. Dazu postete der überragende Spieler der letzten Dekade ein kurzes Video eines Interviews von José Mourinho, in dem der Star-Fußballcoach sichtlich aufgebracht davon spricht, dass er lieber nichts sage, um sich selbst nicht in Schwierigkeiten zu bringen.

Bald war die kryptische Nachricht in den sozialen Medien entschlüsselt. Ohne es konkret auszusprechen, hatte Carlsen Niemann offenbar unterstellt, bei seinem Sieg gegen ihn betrogen zu haben. Nur: Wie schummelt man beim Schach?

Seit Computerprogramme besser spielen als die stärksten Großmeister, ist "Cheating", also Schummeln durch unerlaubte Computerunterstützung, immer wieder unangenehmes Thema. Auf höchster sportlicher Ebene blieb diesbezüglich vor allem der später als "Toilet Gate" betitelte Konflikt beim WM-Match zwischen Wladimir Kramnik (RUS) und Wesselin Topalow (BUL) 2006 im russischen Elista in unrühmlicher Erinnerung.

Toilettensperre

Der zurückliegende Topalow beschuldigte damals seinen Gegner, auffällig oft die Toilette aufzusuchen, um dort über einen versteckten Laptop oder eine heimlich verlegte Leitung auf Analysen der laufenden Partie zuzugreifen. Die Vorwürfe blieben unbewiesen, dennoch schloss die Turnierleitung Kramniks persönliche Toilette, worauf dieser aus Protest nicht zur nächsten Partie antrat und der Wettkampf vor dem Abbruch stand. Am Schluss setzte sich der Russe im Tiebreak durch, die zwei Streithähne verweigerten danach noch auf Jahre hinaus den im Schachsport sonst obligatorischen Handschlag vor und nach dem Spiel.

Seit damals sind die Programme unvergleichlich stärker geworden, heute spielt jede bessere App den Weltmeister an die Wand. Der Versuchung, davon am Brett zumindest sporadisch Gebrauch zu machen, erlagen über die Jahre viele Amateure und auch einzelne Profis.

Mitunter wurden sie, wie der tschechische Großmeister Igor Rausis, von ihren misstrauisch gewordenen Gegnern tatsächlich in flagranti mit dem Handy in der Toilettenkabine erwischt. Die Konsequenz sind langjährige Sperren für die Missetäter, der Weltschachbund nimmt das Thema als eine Art E-Doping seit Jahren sehr ernst. Smartphones sind bei den meisten Turnieren inzwischen auch im ausgeschalteten Zustand tabu, bei Großereignissen werden Spieler wie Zuschauer vor Eintritt in den Turniersaal wie auf einem Flughafen gefilzt.

Carlsen vs. Niemann.
Foto: Saint Louis Chess Club/Lennart Ootes

Deshalb blieben die am Brett ausgetragenen Turniere der Weltelite nach dem "Toilet Gate" bisher von Betrugsskandalen verschont. Bei den seit Pandemiezeiten boomenden Onlineturnieren sind Cheating-Vorwürfe dagegen quasi Routine.

Auch in der von Carlsen geschaffenen Causa Niemann herrscht bisher ein Mangel an Beweisen. Denn der Teenager spielte bei seinem Sieg keineswegs makellos: Computeranalysen zeigten vielmehr, dass Niemann Carlsen im Endspiel eine Reihe von Möglichkeiten eingeräumt hatte, das Duell remis zu halten, die der Norweger verpasste. Auch eine schlüssige Hypothese, wie Niemann die Antibetrugsmaßnahmen überlistet haben könnte, blieben seine Ankläger, angeführt vom populären Schach-Streamer und Weltklassemann Hikaru Nakamura, bisher komplett schuldig.

Großmaul

Zur Last gelegt wird dem Youngster, der in Interviews etwas großmäulig auftritt, vor allem zweierlei: Zum einen sei Niemanns kometenhafter Aufstieg, der ihn in eineinhalb Jahren von Elo 2450 auf 2700 Ratingpunkte beförderte, zu plötzlich erfolgt. Zum anderen sei er bei den online gestreamten Nachbesprechungen der Partien in St. Louis nicht in der Lage gewesen, die von ihm am Brett gewählten Züge ausreichend mit schlüssigen Varianten zu belegen. In einem Interview nach Runde fünf ging Niemann am Mittwoch in die Offensive: Der Beschuldigte warf seinerseits Carlsen, Nakamura sowie der führenden US-Schachplattform chess.com vor, eine Rufmordkampagne gegen ihn gestartet zu haben.

Im Zuge seiner Attacke musste Niemann allerdings auch eigene Vergehen einräumen. Vor Jahren, so gestand er, hatte er in Onlinepartien zweimal Computerhilfe genutzt und war dafür von chess.com vorübergehend gesperrt worden. Niemann präsentierte sich als reuiger Sünder, der wegen längst gesühnter Fehler nun zu Unrecht verfolgt wird. Seine Gegner dürfte der Auftritt nicht überzeugt haben, insgesamt aber scheint die Schachwelt gespalten. Während die einen vor Paranoia warnen, halten andere die gegen Niemann vorgebrachten Indizien für erdrückend.

Zu einem Turnierausschluss oder einer Sperre wird es in St. Louis nicht kommen, solange keine stichhaltigen Beweise vorliegen. Niemanns Ruf dürfte dennoch irreparabel beschädigt sein, und auch der Ausgang des Turniers interessiert seit Carlsens Abreise kaum. (Anatol Vitouch, 9.9.2022)