Zurück aus den Sommerferien gähnen viele Schülerinnen und Schüler an den ersten Schultagen.

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Taro ist sieben Jahre alt und hat in den nächsten Monaten einiges zu tun. Der Bub mit den schulterlangen, hellroten Haaren besucht die zweite Volksschulklasse. Er soll sich bis nächsten Sommer frei im Zahlenraum 100 bewegen, erkennen, ob seine Mitschülerin 30 Zentimeter oder 30 Dezimeter entfernt von ihm Malreihen übt, und schon bald ungeduldig Tage, Stunden und Minuten bis zum nächsten Ferienbeginn zählen können.

Dass gerade Zeit ein wichtiger Faktor ist, spürt Taro aber bereits. Denn seit einigen Tagen klingelt der Wecker wieder um sieben Uhr. "Er ist müde, wenn er aufsteht", erzählt seine Mutter Sarah Gaderer. Aufwachen, frühstücken und anziehen: Taro hat dafür zwei Stunden Zeit, denn sein Schultag beginnt erst um neun. Zu diesem Zeitpunkt haben die meisten anderen Kinder die erste Mathe-, Deutsch- oder vielleicht sogar Turnstunde bereits hinter sich.

Der Siebenjährige allerdings besucht das Schulkollektiv Wien, eine elternverwaltete Privatschule im 19. Wiener Gemeindebezirk. "Bei uns beginnt die Schule um neun Uhr. Bis dahin wird gemütlich angekommen, geplaudert, es werden Freunde und Freundinnen begrüßt, und dann geht es los", heißt es auf der Website. Die sogenannte Frühbetreuung beginnt bereits um sieben Uhr.

Direktorin Katharina Tschernitsch ist bereits seit 2004 an der Schule. Der spätere Start in den Tag hat für sie nur Vorteile. Die Kinder seien fitter, konzentrierter, aufmerksamer und dadurch lernfähiger. "Um acht Uhr bleibt genauso wie um 17 Uhr viel weniger hängen. Frühe und späte Lernzeiten sind kontraproduktiv", sagt Tschernitsch. Aus pädagogischer Sicht empfiehlt sie allen Schulen, künftig eine Stunde später zu starten.

Dabei scheint die Wahl des passenden Zeitpunkts enorm wichtig. Einen Schulbeginn um zehn Uhr würde die Pädagogin wiederum nicht befürworten, zumal die Eltern um diese Uhrzeit oft schon arbeiten. Wenn die Kinder trotzdem aufstehen und in die Frühbetreuung müssen, hätten sie keinen Vorteil von einem späteren Schulbeginn. Und: "Irgendwann sollte man schon in den Tag starten."

Zu frühe und zu späte Lernzeiten sind laut Katharina Tschernitsch kontraproduktiv.
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Flexible Zeiten per Gesetz

Gesetzlich könnte die erste Schulglocke auch um zehn Uhr läuten. Denn laut Schulzeitgesetz dürfen Schulen autonom über ihren frühmorgendlichen Beginn entscheiden. Der Unterricht muss irgendwann zwischen sieben und 18 Uhr, ab der neunten Schulstufe sogar 19 Uhr, stattfinden. Vor allem Jugendliche und deren Eltern werden sich nun fragen: Warum starten die meisten Schulen gerade um acht Uhr? Und vor allem: Ist das wirklich sinnvoll?

Wissenschafter Bernd Kerschner vom Department für Evidenzbasierte Medizin an der Donau-Universität Krems hat sich diese Frage als Kind ebenfalls gestellt. Eine Antwort hat er bis heute nicht gefunden. Denn auch die Wissenschaft scheint ratlos.

Bereits 2017 gab es eine große Übersichtsarbeit, die bestehende Studien und damit die Aussagen und Erfahrungen von über 300.000 Schülerinnen und Schülern zu früherem und späterem Schulbeginn zusammengefasst hat. Die Ergebnisse der einzelnen Erhebungen waren allerdings derart widersprüchlich, dass die Wissenschafter keine eindeutige Antwort herauslesen konnten. Laut Kerschner ist daher immer noch ungewiss, ob frühere oder spätere Schulzeiten relevante Auswirkungen auf Noten, Müdigkeit, Anwesenheit und seelische Gesundheit der Kinder haben.

Auch eine aktuelle Erhebung, die den Zusammenhang des Schulbeginns mit Noten und Testergebnissen untersucht, liefert keine eindeutigen Resultate. Die Ergebnisse sind laut Kerschner abermals zu widersprüchlich, als dass man daraus allgemeine Schlüsse ziehen könnte. Manche Erhebungen würden einen klaren Vorteil bei späterem Schulstart zeigen, andere wiederum nicht.

Unterschiedliche Rhythmen

Kerschner erklärt sich die divergierenden Ergebnisse auch dadurch, dass Schulnoten subjektiv und zwischen einzelnen Lehrpersonen nicht vergleichbar seien. "Sie scheinen objektiv, sind es aber nicht, und daher gibt es auch keinen objektiven Maßstab." Ein paar Gemeinsamkeiten kann Kerschner aus den Studienergebnissen aber doch entnehmen.

So hat keine Erhebung einen negativen Effekt aufgrund späterer Schulzeiten erkannt. Das heißt: Schülerinnen und Schüler bekommen zumindest keine schlechteren Noten, wenn die Schule später beginnt. Dass Kinder unterschiedliche Schlafrhythmen haben und sich diese im Teenageralter in Richtung Nachteule verschieben, lasse sich aus diesen Studien zwar nicht herauslesen – das sei jedoch allgemein in der Schlafforschung bekannt.

Dazu ließe sich auch eine weitere "vorsichtige Conclusio", wie es Kerschner ausdrückt, aus der Übersichtsarbeit von 2017 herauslesen: Das einzige Ergebnis, in dem sich die Studien nicht widersprechen, ist, dass die untersuchten Teenager bei späterem Schulbeginn auch länger zu schlafen scheinen.

Die Studien zeigen: Ein späterer Schulbeginn bringt zumindest keine schlechteren Noten.
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Individuell entscheiden

Die Entscheidung, Kinder um acht oder lieber um neun in die Schule zu schicken, bleibt also den Eltern überlassen. Sofern sie eine Schule finden, deren Unterricht später startet. Denn wie viele Schulen einen späteren Unterrichtsbeginn überhaupt anbieten, war beim Bildungsministerium nicht zu erfahren. Lediglich, dass dazu kein Schulversuch läuft.

Für Taros Mutter Sarah Gaderer war der Schulbeginn um neun jedenfalls ein Bonus. Ein Tagesbeginn um acht Uhr war für sie keine Realität mehr, seit sie selbst in die Schule gegangen war. Vor allem im Winter hieße das im Dunkeln aufstehen, und das will sie ihren Kindern – sie hat neben Taro auch die dreijährige Tochter Una – nicht antun. "Da ist das Hirn noch nicht aufnahmefähig", sagt sie.

Schon der Umstieg von zehn auf neun – die Kindergruppe startet um zehn – sei ein großer gewesen. Taro und Una hassten es, wenn sie in der Früh gestresst würden. "Da habe ich schon verloren", sagt Gaderer.

Da sei jede gewonnene Stunde eine wertvolle. Zudem bleibe noch Zeit, gemütlich ein Buch zu lesen. Aufstehen, frühstücken und raus funktioniere nicht. Sarah Gaderer: "Kinder haben auch in der Früh große Gefühle, die Zeit brauchen." (Julia Beirer, 9.9.2022)