STANDARD: "Der lange Kampf um Selbstbestimmung" lautet der Untertitel Ihres Buches über die Frauen in Afghanistan. Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban sieht es aus, als müsste es "der vergebliche Kampf" heißen ...

Hasrat-Nazimi: Die Frauen erlitten herbe Rückschläge. Aber sie sind nach wie vor aktiv und suchen nach Wegen, um sich gegen die systematische Unterdrückung durch die Taliban zur Wehr zu setzen. Ihr Kampf geht im Untergrund weiter.

"In Afghanistan findet die größte Hungerkrise der Welt statt": Waslat Hasrat-Nazimi.
Foto: Julia Sellmann

STANDARD: Woher kommt das pervertierte Frauenbild der Taliban?

Hasrat-Nazimi: Die Taliban werden in den zum Teil fundamentalistisch religiösen Madāris erzogen, wo sie von Frauen völlig abgeschottet sind. In einem der Verse, die sie da zitieren müssen, werden Frauen als die Ursache allen Übels dargestellt. Ihretwegen gebe es Versuchung und Korruption in der Welt. Die Taliban sind keine organisch gewachsene Gruppierung. Sie wurden gezielt geschaffen und ausgebildet, um zu kämpfen, und nicht, um ein Land zu regieren. Dazu sind sie überhaupt nicht in der Lage.

STANDARD: Welchen Bezug haben die Taliban zu Afghanistan und zur Vielfalt der afghanischen Kultur?

Hasrat-Nazimi: Die Taliban sind ein Projekt, das gegen die afghanische Kultur und den Islam gerichtet ist. Frauen auf dem Land etwa können niemals so zurückgezogen leben, wie die Taliban dies verlangen, weil sie in der Landwirtschaft gebraucht werden. Darum sah man auf dem Land kaum Burkas. Die hätten die Frauen bei der Arbeit behindert. Auch ist es eines der höchsten Gebote des Islams, dass sich sowohl Frauen als auch Männer bilden. Allerdings gibt es unterschiedliche Gruppen innerhalb der Taliban, darunter auch moderne, die in Katar und Pakistan leben und den Schulbesuch von Mädchen nicht per se ablehnen.

STANDARD: Wie empfinden es die Frauen, dass der Westen 2021 das Land den Taliban überließ?

Hasrat-Nazimi: Die Frauen fühlen sich hintergangen und im Stich gelassen. Als die westlichen Militärs unter Führung der USA in Afghanistan einfielen, war ihr Ziel, die Taliban zu stürzen. Mit dem Versprechen, den Terrorismus zu bekämpfen und die Frauenrechte zu stärken, blieben sie im Land. Sie beteuerten, die afghanische Bevölkerung zu unterstützen, eine Demokratisierung des Landes anzustoßen und Schulen für Mädchen einzurichten. Aber sie hielten ihre Versprechen nicht. Aus afghanischer Sicht bedeutet das einen Vertrauensbruch, der auch nicht wiedergutzumachen ist.

STANDARD: Sind die weiblichen Vorbilder, die Sie in Ihrem Buch nennen, der breiten Bevölkerung in Afghanistan bekannt?

Hasrat-Nazimi: Nahid Anahita Ratebzad und Meena Keshwar Kamal aus der neueren Zeit sind aufgrund ihrer linken Orientierung bekannt. Aber auch Frauen aus der älteren afghanischen Geschichte wie die Dichterin Rabia Balkhi aus dem zehnten Jahrhundert kennt jede Familie, ebenso die nationale Volksheldin Malalai, nach der die Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai benannt wurde. Diese Frauen werden als Vorbild hochgehalten, und zwar sogar von Männern, wenn auch meist nur theoretisch.

STANDARD: Sie zitieren Laura Bush und Hillary Clinton, die beide während der Invasion meinten, der Krieg werde die Frauen in Afghanistan retten...

Hasrat-Nazimi: Jahrelang hielten die Westmächte das Thema Frauenrechte hoch und versicherten, man werde den Erfolg, den sie auf dem Gebiet errungen hätten, nicht aufgeben. Stattdessen aber setzten sich die Vertreter der Westmächte mit den Taliban zusammen. Diese Bilder waren für die Frauen in Afghanistan ein Schlag ins Gesicht. Als 2001 die Mehrheit der afghanischen Bevölkerung dafür gewesen war, die Taliban an einen Tisch zu holen und mit ihnen Friedensgespräche zu führen, um eine gemeinsame politische Lösung zu finden, hatte der amerikanische Präsident George W. Bush dies abgelehnt. Er rede nicht mit Terroristen. Und 2021 erhielten jene Terroristen die Macht und sollten die afghanische Gesellschaft vertreten.

STANDARD: Waren die Versprechen des Westens von Anfang an nur Taktik? Ihr Kollege Marc Thörner verweist auf eine in Algerien entwickelte Strategie, die aufständische Bevölkerung durch den Bau von Mädchenschulen für sich zu gewinnen, die in Afghanistan Anwendung fand.

Hasrat-Nazimi: Die Frauen in Afghanistan waren immer ein Spielball der Mächte. Gerade das Thema Mädchenschulen ist ein sensibles. Dass Mädchen in Afghanistan zur Schule gehen, war das Vorzeigeprojekt der Westmächte, das sie als ihren Erfolg verbuchten. Für die Taliban ist es daher die wirksamste Rache, diesen Erfolg zu zerstören und die Mädchenschulen zu schließen. Allerdings war dieser westliche Erfolg nie einer. Wir wissen mittlerweile von den "Ghost Schools", in die viel Geld floss und die gar nicht existierten. Auch vor dem Abzug der Westmächte 2021 besuchten nicht alle Mädchen eine Schule.

STANDARD: Haben Sie den Eindruck, dass das koloniale – und das heißt, das imperiale – Denken im Verhalten des Westens nach wie vor bestimmend ist?

Hasrat-Nazimi: Der afghanische Staatshaushalt war zu über 90 Prozent von ausländischen Geldern abhängig. In den 20 Jahren westlicher Besatzung wurde auch nichts dafür getan, dies zu ändern. Wer am meisten in Afghanistan verdiente, waren die Waffenindustrie und deren Vertragspartner. Aber nur ein kleiner Bruchteil davon kam bei der afghanischen Bevölkerung an. Die Entwicklungszusammenarbeit hält den Globalen Süden weiterhin in Abhängigkeit. 95 Prozent der afghanischen Bevölkerung haben nicht genügend zu essen. Das ist eine unglaublich hohe Zahl. In Afghanistan findet die größte Hungerkrise der Welt statt. Die Menschen im Lande sind also immer noch von der "Güte" des Westens abhängig. Sie werden weiterhin in einer Gefangenschaft gehalten, aus der sie nicht herauskommen.

Waslat Hasrat-Nazimi, "Die Löwinnen von Afghanistan. Der lange Kampf um Selbstbestimmung". € 18,50 / 320 Seiten. Rowohlt-Verlag, Hamburg 2022
Foto: Rowohlt

STANDARD: Sie offenbaren eine geradezu skurrile Strategie: Die USA und andere finanzierten die Mujahedin als Gegenspieler zu den Sowjets, hernach finanzierten sie die Taliban als Gegenspieler zu den Mujahedin. Was steckt wirklich dahinter?

Hasrat-Nazimi: In erster Linie spielten wirtschaftliche Interessen eine Rolle. Es ging darum, ein wenig Sicherheit und Ordnung zu schaffen, um eine Pipeline zu bauen, und an Öl zu kommen. Dazu war jedes Mittel recht, auch die Gründung einer fundamentalistischen Gruppierung, die noch fundamentalistischer war als die Mujahedin. Die USA dachten damals wohl, es würde aus Afghanistan ein zweites Saudi-Arabien entstehen.

STANDARD: Wie beurteilen Sie vor diesem Hintergrund die Aktivitäten Chinas in Afghanistan?

Hasrat-Nazimi: China und Pakistan sind wichtige Partner Afghanistans. Sie verfolgen große Projekte wie etwa den China-Pakistan Economic Corridor (CPEC), der China und Pakistan an Zentralasien anbinden soll. Auch hat China großes Interesse an den afghanischen Ressourcen, vor allem an den Kupferminen. Bereits unter Hamid Karzai wurden Verträge darüber abgeschlossen, die jedoch aufgrund der unzureichenden Sicherheitslage nicht umgesetzt werden konnten. China beteuert zwar immer, gegen den Terrorismus zu sein. Aber es ist bereit, sich mit den Taliban zu arrangieren und mit ihnen zusammenzuarbeiten. Ich vermute, die Rolle Chinas und Russlands wird in Zukunft noch größer werden. Darum haben sich die Taliban auch vom Ziel einer westlichen Anerkennung weitestgehend abgewandt.

STANDARD: Die Bevölkerung Afghanistans ist ja sehr jung. Gibt das Anlass zur Hoffnung für das Land?

Hasrat-Nazimi: Diese jungen Menschen möchten sicher nicht mehr so isoliert leben wie in den 1990er-Jahren. Langfristig werden sich die Taliban nicht an der Macht halten können. Als die USA Aiman az-Zawahiri, den Anführer von Al-Kaida, mitten in Kabul mittels einer Drohne töteten, offenbarte sich, was viele lange Zeit vermuteten – dass sie untereinander nicht einig sind. Ihre Differenzen werden in Zukunft noch größer werden. Allerdings fürchte ich, dass es erneut Krieg geben wird. Vielleicht aber gelingt es dann, eine politische Lösung zu finden. Ich hoffe auf eine Zukunft für Afghanistan, die allen Menschen des Landes, egal welche ethnische Herkunft oder welches Geschlecht sie haben, gesellschaftliche Teilhabe und Selbstbestimmung ermöglicht. (Ruth Renée Reif, 11.9.2022)