Mit seinem Projekt "Neue Seidenstraße" untermauert Staatschef Xi Jinping Chinas Weltmachtanspruch. Das spricht er natürlich nicht offen aus, sondern beschwört das Erbe der alten Seidenstraße. Etwa bei einem Staatsbesuch 2013 in Kasachstan: "Die zweitausendjährige Geschichte der Beziehungen belegt, dass Staaten – trotz der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Völkern, Religionen und Kulturen – in Frieden miteinander leben und gemeinsam Fortschritte erzielen können, wenn sie an den Prinzipien von Einigkeit und Vertrauen, Gleichheit und gegenseitigem Nutzen, Toleranz und wechselseitigem Lernen, Kooperation und gemeinsamem Gewinn festhalten. Das ist die kostbare Erkenntnis, die uns die alte Seidenstraße übermittelt hat."

Thomas O. Höllmann, "China und die Seidenstraße – Kultur und Geschichte von der frühen Kaiserzeit bis zur Gegenwart". € 35,00 / 454 Seiten. C. H. Beck, München 2022
Foto: C. H. Beck

Wie es um die Toleranz der Führung in Peking bestellt ist, erfahren die muslimischen Uiguren in der Region Xinjiang, dem einstigen "Kernland" der Seidenstraße: Massenverhaftungen, Schauprozesse, Exekutionen, Zwangssterilisierungen; Zehntausende werden in sogenannten Umerziehungslagern festgehalten. Wie es um den gemeinsamen Gewinn bestellt ist, hat die Regierung von Sri Lanka erfahren. Der Ausbau des Hafens von Hambantota wurde mit einem Kredit der chinesischen Staatsbank finanziert. Das Projekt floppte, die Regierung konnte die Kreditraten nicht bedienen. Sie musste für einen Schuldenerlass die Betreiberrechte für 99 Jahre an ein chinesisch geführtes Konsortium abtreten.

Wenn China die alte Seidenstraße als Vorbild für die geplante neue preist, lohnt es sich, dieses Vorbild genauer zu beleuchten. Der renommierte deutsche Sinologe Thomas O. Höllmann hat sich der Mühe unterzogen. Ergebnis ist ein umfassendes, reich illustriertes Werk: China und die Seidenstraße. Höllmann macht deutlich: Seidenstraße ist ein Sammelbegriff für ein komplexes Netz von Verkehrs- und Kommunikationswegen, ein Konstrukt, "für das unterschiedliche Phänomene und Zeithorizonte zusammengeführt wurden". Der ost-westliche und west-östliche Austausch war immer wieder von wechselseitigen kulturellen Hegemonieansprüchen begleitet. Wobei Höllmann klarstellt: Politik und Wirtschaft haben die begriffliche Strahlkraft der Seidenstraße erst nach Wissenschaft und Kunst entdeckt.

Dazu zwei Beispiele. Die Geschichte des Drucks lässt sich in China bis in das Jahr 220 v. Chr. zurückverfolgen. Sie begann mit beschrifteten Steinstelen, von denen sich Abreibungen anfertigen ließen. Rund eineinhalb Jahrtausende später gab es gedruckte Bücher. In Europa begann der Buchdruck 1454 mit der Veröffentlichung einer lateinischen Ausgabe der Bibel und verbreitete sich rasant. Dabei stellt Höllmann die Frage, ob es ein Geniestreich Gutenbergs gewesen sei, ganze Bücher mithilfe beweglicher Lettern zu produzieren – oder ob "dazu nicht doch die eine oder andere Anregung beitrug, die ihren Ursprung in weiter Ferne hatte".

Geschichte des Scheiterns

In umgekehrter Richtung ist die Geschichte katholischer Missionierungsversuche im Reich der Mitte eine Geschichte des Scheiterns. Am erfolgreichsten waren noch die Jesuiten, die hohe Beamtenränge am chinesischen Hof erlangten. Im Gegensatz zu anderen Orden, die missionarisch in China tätig waren, akzeptierten die Jesuiten die Orientierung an konfuzianischen Werten, den Ahnenkult und die Kaiserverehrung.

Die Dogmatiker aber zogen Papst und Kurie in Rom auf ihre Seite, Zugehörigkeit zum Christentum und Ausübung konfuzianischer Riten wurden für unvereinbar erklärt. Dadurch sei es Konvertiten unmöglich gemacht worden, sich zu ihrem Staat zu bekennen, was vom Hof als Unterminierung des kaiserlichen Herrschaftsanspruchs gedeutet wurde, schreibt Höllmann.

Abgeleitet vom "Mandat des Himmels" erstreckte sich dieser Autoritätsanspruch im Prinzip auf die ganze Welt: Dem chinesischen Kaiser oblag es, die Harmonie zwischen der Menschheit und dem Kosmos aufrechtzuerhalten. Ist es überzogen, aus Xi Jinpings Elogen auf die "Neue Seidenstraße" und Chinas Botschaft der Harmonie zwischen den Völkern einen ähnlichen Anspruch abzuleiten?

Der Autor erinnert daran, dass beim Nationalen Volkskongress 2021 auch die "Digitale Seidenstraße" in den Vordergrund gerückt worden sei. Dies aber sei angesichts der bisherigen restriktiven Politik ein Widerspruch in sich – außer Peking ziele dabei nicht auf besseren internationalen Informationsaustausch, sondern auf eine umfassende Kontrolle des Netzes über die Landesgrenzen hinaus ab. Die Vorstellung ist leider nicht abwegig – auch angesichts der Haltung Xis zu Putins Krieg gegen die Ukraine. (Josef Kirchengast, 11.9.2022)