Wenn italienische Zeitungen in diesen Tagen Giorgia Meloni zitieren, dann handelt es sich meist um Übersetzungen – vorwiegend aus dem Englischen. Denn die 45-jährige Chefin der extrem rechten Partei Fratelli d’Italia ("Brüder Italiens" – mit diesem Vers beginnt auch der Text der italienischen Nationalhymne, Anm.) spricht seit längerem lieber und mehr mit ausländischen Medien als mit den einheimischen.

Temperamentvoll und rhetorisch geschliffen: Giorgia Meloni im Wahlkampfmodus.
Foto: IMAGO/Independent Photo Agency I/Piero Tenagli

In den Interviews sagt sie dann Sätze wie: "Ich stehe zu dem, was ich denke. Wenn ich eine Faschistin wäre, dann würde ich das sagen. Aber ich bin keine Faschistin." (The Spectator, 18. August). Oder in einem an die Auslandspresse in Rom verschickten, dreisprachigen Video am 10. August: "Die italienische Rechte hat den Faschismus der Geschichte überantwortet und die Unterdrückung der Demokratie sowie die schändlichen antijüdischen Gesetze verurteilt."

Keine Faschistin also – und auch keine finanzpolitische Hasardeurin: "Ich bin da sehr vorsichtig. Keine verantwortungsvolle Person kann es sich vorstellen, die Finanzen des Landes zu ruinieren", erklärte Meloni am 25. August im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Reuters.

Kritik an Verbündeten

Italien werde sich an die Vorgaben aus Brüssel halten. Und wenn ihre Bündnispartner Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega und der konservative Ex-Premier Silvio Berlusconi eine Einheitssteuer von 15 Prozent und die Verdoppelung der Mindestrenten versprechen, dann mahnt sie diese, "keine unrealistischen Wahlversprechen zu machen". Immer wieder streicht Meloni außerdem heraus, dass sie keine "Putin-Freundin" sei – anders als ihre wahrscheinlichen künftigen Regierungspartner Salvini und Berlusconi: Italiens Verankerung in der Nato und die Unterstützung der Ukraine gegen die russische Aggression würden unter ihr keinesfalls infrage gestellt.

Giorgia Meloni ist sich bewusst, welche Ängste und Bedenken ihre Favoritenrolle bei den Parlamentswahlen auslöst. Das ist letztlich der Grund für ihre derzeitige Charme- und Beruhigungsoffensive. Doch der Versuch, sich als gemäßigte Politikerin darzustellen, die mit beiden Füßen auf dem Boden des demokratischen Rechtsstaats steht und sich vom ideologischen Ballast der postfaschistischen Vorgängerparteien befreit hat – dieser Versuch scheitert an der Wirklichkeit.

Gott, Familie, Vaterland

Denn immer mal wieder geht das Temperament mit ihr durch. Dann wird ihre Stimme schrill und überschlägt sich – wie bei ihrem Auftritt im spanischen Marbella im vergangenen Juni bei der rechtsextremen Partei Vox, mit der sie im Fall eines Wahlsiegs "Seite an Seite" und mit "Millionen von Italienern" für ein anderes Europa kämpfen will.

Dort sagte die Römerin ganz andere Sätze, nämlich: "Vermittlung ist nicht möglich – man sagt ja oder nein. Ich sage: Ja zur natürlichen Familie; Nein zur LGBT-Lobby; Ja zur sexuellen Identität; Nein zur Gender-Ideologie; Ja zum Leben; Nein zur Kultur des Todes; Ja zu den christlichen Werten; Nein zur islamistischen Gewalt; Ja zur Souveränität des Volkes; Nein zu den Brüsseler Bürokraten; Ja zu sicheren Grenzen; Nein zur Masseneinwanderung. Hoch lebe Spanien, hoch lebe Italien, hoch lebe das Europa der Patrioten!"

Gott, Familie, Vaterland: Das war schon der Leitspruch des faschistischen Diktators Benito Mussolini gewesen. 30 ihrer 45 Lebensjahre hat Giorgia Meloni in postfaschistischen Parteien verbracht. Und die Fratelli d’Italia hat sie im Jahr 2012 selber gegründet – das prägt. Bei den "Brüdern Italiens" wimmelt es, auch in Führungspositionen, bis heute von hartgesottenen Duce-Nostalgikern, die bei jeder Gelegenheit die rechte Hand zum "römischen Gruß" recken, zu Mussolinis Grab in Predappio pilgern und enge Kontakte zu Holocaust-Leugnern pflegen.

Bloß eine Zweckgemeinschaft, denn persönlich kann man nicht besonders gut miteinander: Silvio Berlusconi, Giorgia Meloni, Matteo Salvini (v.li.)
Foto: AP Photo/Andrew Medichini

Das tut Meloni zwar nicht – aber sie distanziert sich auch nicht ernsthaft davon. Und auf dem Parteilogo der Fratelli d’Italia prangt noch immer die grün-weiß-rote Flamme, die über dem durch einen schwarzen Strich symbolisierten Sarg des Diktators Benito Mussolini züngelt. Als Meloni unlängst aufgefordert wurde, auf die Flamme im Parteilogo zu verzichten, weigerte sie sich: "Wir sind stolz darauf."

Es sind freilich nicht nur Symbole und Wahlkampfauftritte wie bei Vox, die Zweifel an der Mäßigung der Römerin nähren. Denn sie pflegt immerhin seit Jahren beste Kontakte zu Rechtsextremisten, Nationalisten und EU-Feinden in aller Welt.

2018 lud sie zu einer großen Parteiversammlung den früheren Trump-Berater Steve Bannon ein, der mit begeisterten Ovationen gefeiert wurde. Ein Jahr später war der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán an der Reihe, den Meloni für seine "Mauer" gegen die syrischen Kriegsflüchtlinge, die "Verteidigung der christlichen Identität Ungarns", seine Förderung der "natürlichen Familie aus Mann und Frau" sowie für die Steuern gegen Banken und Spekulanten lobte.

Poker um EU-Milliarden

Das alles verspricht für das künftige Verhältnis zwischen Rom und Brüssel wenig Gutes, auch wenn Meloni in den vergangenen Wochen mehrfach versicherte, dass Italien "ein verlässlicher Partner der EU bleiben" werde. Das hat Melonis Partei aber nicht daran gehindert, im Parlament in sämtlichen fünf Abstimmungen, in denen der nationale Wiederaufbauplan zur Debatte stand, mit Nein zu stimmen – obwohl Italien im Rahmen dieses Rettungspakets von der EU 191 Milliarden Euro erhält. Meloni nutzte dabei jeweils die Gelegenheit, um gegen die "Bevormundung durch Brüssel" und die Nachteile der Einheitswährung vom Leder zu ziehen.

"Wenn ich eine Faschistin wäre, dann würde ich das sagen.
Aber ich bin keine Faschistin."

Giorgia Meloni, Chefin der Partei Fratelli d’Italia

Aber wie tickt Giorgia Meloni nun wirklich? Mögliche Antworten auf diese Fragen geben die kürzlich von ihr veröffentlichte Autobiografie Io sono Giorgia ("Ich bin Giorgia") sowie eine mehrteilige Recherche der römischen Zeitung La Repubblica.

In ihrem Buch beschreibt Meloni, wie ihr Vater Franco die Familie verließ, als sie vier Jahre alt war. Der Papa segelte um die Welt und eröffnete dann auf den Kanarischen Inseln eine Bar. Wenige Monate nach dem Verschwinden des Vaters vergaßen die kleine Giorgia und ihre Schwester Arianna eine brennende Kerze in ihrem Zimmer – das Haus brannte ab. Giorgia, Arianna und die Mutter Anna zogen in eine 45-Quadratmeter-Wohnung im römischen Arbeiterviertel Garbatella; die Mutter hielt die Familie mit wechselnden Jobs über Wasser.

Als Kind einer alleinerziehenden Mutter war Giorgia in der neuen Umgebung eine Außenseiterin, in der Schule wurde sie gemobbt. Als sie 15 war, trat sie der "Jugendfront" des postfaschistischen Movimento Sociale Italiano (MSI) bei, wo sie Freunde und Anerkennung fand.

Dauergast in Talkshows und in den Nachrichten: Giorgia Meloni, höchstwahrscheinlich ab Oktober Italiens erste Ministerpräsidentin
Foto: Alberto PIZZOLI / AFP

Dank ihres Temperaments, ihrer geschliffenen Rhetorik und ihrer Unerschrockenheit stieg sie innerhalb der Organisation schnell auf. Später politisierte sie in der Alleanza Nazionale (AN) von Gianfranco Fini, der die Postfaschisten auf die Demokratie verpflichtet und regierungsfähig gemacht hatte.

Im Jahr 2008 wurde Meloni unter Silvio Berlusconi im Alter von 31 Jahren Jugend- und Sportministerin. Nach dem Bruch mit Fini, der die Trikolore-Flamme aus dem Parteilogo der AN entfernt hatte, gründete Meloni die Fratelli d’Italia.

Das große Zittern

Die einstige Außenseiterin wollte es immer allen zeigen. Doch bei den ersten Wahlen 2013 erzielten die Fratelli bloß zwei Prozent der Stimmen, 2018 kamen sie dann auf vier Prozent. In der nach wie vor von männlichen Platzhirschen dominierten italienischen Politik wurde Meloni angesichts dieser mageren Resultate lange belächelt: Die "Ragazza aus Garbatella" wurde, auch in ihrer eigenen Partei, nicht richtig ernst enommen.

Das hat sich gründlich geändert: Heute, kurz vor den Wahlen am 25. September, bei denen sie zu Italiens erster Ministerpräsidentin gekürt werden könnte, zittern alle vor Giorgia Meloni. In Italien, aber vor allem auch im Ausland. (Dominik Straub, 11.9.2022)