Als mythische Kraft zwischen schwimmenden Bühnenschauplätzen in Linz: Mimin Sunnyi Melles.

Foto: Reinhard Winkler

In Linz werden Picknickkörbe befüllt und Decken bereitgelegt: Die Klangwolke naht. Wie immer zu diesem Anlass hat sich das Team vom Brucknerhaus Besonderes vorgenommen: in diesem Jahr nichts weniger als einen Zeitsprung über mehrere Jahrtausende. Das Gilgamesch-Epos soll an den Gestaden der Donau auf eine spektakuläre Weise erzählt und dabei mit der Gegenwart verbunden werden. Zu diesem Zweck wurde eine der ältesten schriftlich überlieferten Dichtungen von Dramaturg Klaus Bertisch gestrafft und in einen Prolog und sechs Szenen portioniert.

Und nicht nur das. Pierre Audi, der international renommierte Inszenierungsvirtuose und Kopf des diesjährigen Produktionsteams, regte an, die uralte Geschichte mit ihren männlichen Protagonisten von einer Frau erzählen zu lassen. Und so ist es in Linz Mutter Gilgamesch, die vom Größenwahn ihres Sohnes, des gleichnamigen Königs, erzählt. Sie berichtet von seiner Rivalität und späteren Freundschaft mit Enkidu, den die Götter aus Lehm erschufen. Zusammen mit Enkidu misst Gilgamesch seine Kräfte mit der Natur, gemeinsam zerstören sie einen Zedernwald. Die Strafe der Götter folgt der Tat auf den Fuß, Enkidu muss sterben. Weil Gilgamesch den Freund nicht verloren geben will, macht er sich auf die Suche nach der Unsterblichkeit.

Dreierlei Projektionen

Welche Frau hat den Adel der Seele und somit das Format, eine solche Königsmutter darzustellen? Sunnyi Melles, natürlich. Vor einem Bluescreen hat die Tilda Swinton des Kontinents die Rolle eingespielt, die Filmaufnahmen wurden dann in das Videodesign von Gilbert Nouno integriert. Dessen Bilder ergießen sich am Samstagabend über die Donau, sie werden auf drei Schiffe projiziert. Urs Schönebaum zeichnet für die schwimmenden Bühnenschauplätze verantwortlich, die für drei Handlungsorte dieser Urgeschichte stehen: den Tempel, den Turm und den Wald.

Neben der einzigartigen Optik spielen bei der Linzer Klangwolke natürlich auch die akustischen Aktivitäten eine Hauptrolle. Stefan Gregory hat in seiner Arbeit eigene Neukompositionen mit Elementen des Jazz, des Heavy Metal und des Pop collageartig verbunden; Kompositionen von Anton Bruckner an diesem Ort – locus iste – natürlich auch mit dabei. Spezialisten für Bruckner sind die St. Florianer Sängerknaben, die in dieser Großunternehmung genauso mit von der Partie sind wie 60 Statistinnen und 130 Kräfte von der Technik und der Produktion. Die braucht man auch, müssen doch über 100 Quadratmeter LED-Fläche positioniert und fünf Kilometer Kabel verlegt werden.

Und warum der ganze Aufwand? Damit es im Linzer Donaupark an einem hoffentlich lauschigen Septemberabend für eine Stunde zu einem unvergesslichen Gemeinschaftserlebnis kommt, bei dem zehntausende Menschen aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten – mit Picknickkörben und Decken oder ohne – mit Kunst in Berührung kommen und von ihr berührt werden. Das ist einzigartig, das gibt es nur in Linz. (Stefan Ender, 9.9.2022)