Die nun von rechts erhobenen Forderungen nach einer nachträglich jetzt durchzuführenden Volksabstimmung über die verhängten Sanktionen etc. sind nichts anderes als populistische Stimmungsmache, ja Hetze. Es muss aber, abseits solcher Hetze, erlaubt sein, sich über das, was vorgefallen ist und vorfällt, Gedanken zu machen. Nachdem von den Befürwortern eines Durchhaltens bis zum finalen Sieg der Ukraine jede abweichende Wortmeldung gern und oft als Geschwätz, Gewäsch oder Geschwafel abgetan wird – vielfach auch von mir sonst durchaus geschätzten Kommentatoren –, hier gleich die Warnung: Was nun folgt, ist nur so dahingeschwafelt.

Woher kommt in Zukunft unsere Energie? Wie groß ist die wirtschaftliche Macht Europas? Und wie groß bleibt sie, wenn Putin weiter den Gashahn zudreht?

Foto: Imago

Sieht man etwa den viel bejubelten deutschen Minister Habeck im Fernsehen erklären, dass jetzt Energie gespart werden muss, dass aber über den Winter alles gut gehen wird, wenn von jedem Einzelnen Energie gespart wird, erkenne ich an seinem Gesichtsausdruck – oder kommt mir das nur so vor? –, dass ihm, dem Minister, das Paradoxe an der Situation wohl bewusst ist: Als die entscheidende Weiche in Hinsicht auf die Einstellung zum Krieg in der Ukraine gestellt wurde, hat sich offenbar niemand vom Führungspersonal über die Folgen den Kopf zerbrochen – jetzt auf einmal, wo eben die Folgen eintreten, ist plötzlich der einzelne Bürger gefragt, eine Volksgemeinschafts-Rabulistik kommt auf: Es gibt aber hierzulande keine Volksgemeinschaft, sondern bloß verschiedene Einkommensklassen.

Erinnere ich mich an den geradezu religiösen Verkündigungsgestus, mit dem Ministerin Baerbock unsere Haltung zur russischen Aggression, zum Einmarsch in der Ukraine formulierte, werde ich, denke ich das mit unserem nunmehrigen Zittern und Bangen in Sachen Gas und seine Lieferung durch Russland zusammen, den Gedanken nicht los, dass hier etwas falsch gelaufen ist.

Wird das Spiel Putins mit dem Gashebel jetzt als perfid bezeichnet – so die wiederum von Deutschland ausgehende Sprachregelung, von unserer hiesigen Energieministerin sogleich übernommen –, kann ich nur den Kopf schütteln: Hat denn irgendjemand tatsächlich geglaubt, dass Putin, der Aggressor, auf den vom Westen in Antwort auf seine Aggression implementierten Wirtschaftskrieg seinerseits nicht antworten und zurückschlagen würde – und zwar mit einer Antwort, die uns Europäern möglichst wehtut?

Die Chemie der Europäischen Union

Im Verlauf der durch den Krieg hervorgerufenen Situation hat sich, kommt mir vor, die Chemie der Europäischen Union, das Verhältnis ihrer Mitglieder zueinander, stark verändert. Der Grundton in der Sache wurde von Deutschland angeschlagen. Die moralische Entrüstung über das russische Vorgehen, das Urteil über und die Verurteilung dieses Vorgehens – wer würde das nicht teilen und unterschreiben? –, schwebte dabei von Anfang an allerdings frei im Raum. Erwägungen über alles Weitere, das Mögliche, das Wahrscheinliche, das zu Erwartende, fanden nicht statt. Hier wäre auch der mittlerweile abgehalfterte Boris Johnson kurz zu erwähnen, der, äußerst durchsichtig im Übrigen, sich zu einer Art Churchill in der Angelegenheit hochstilisieren wollte, um einerseits von seinen innenpolitischen Turbulenzen abzulenken und andererseits – hoch Brexit! – dem Staatsvolk wieder einmal zu vermitteln, wie mächtig Britannia doch ist.

Rosei: Was ist falsch gelaufen?
Foto: Heribert Corn

Mittlerweile favorisiert Ministerin Baerbock ein enges und zu intensivierendes Zusammengehen mit den USA – im Kampf um Freiheit und Demokratie. Die Agenda wirkt angesichts der Zustände in den USA – Stichwort Trump – einigermaßen kühn und ist weiters dazu angetan, der oben angesprochenen inneren Veränderung der EU einen zusätzlichen und neuen Drall zu geben, insbesondere wenn man die von Minister Habeck geprägte Formel hinzudenkt: Deutschland wolle dienend führen.

Die kleineren Staaten, darunter Österreich, geraten dadurch in eine Strömung, einen Sog, dem sie schwerlich widerstehen werden können. Eine gute Regierung zeichnet sich dadurch aus, dass sie das Wohl der von ihr Regierten im Auge hat. Werden wir in Europa gut regiert? Die Frage stellen sich nun alle, wahrscheinlich genauso unpräzise, wie ich sie hier formuliere. Ich bin kein Anhänger des Mottos "Erst kommt das Fressen, dann die Moral", fürchte aber, dass sie zahlreiche Fans hat. "Blood, sweat and tears", die vom schon einmal erwähnten Churchill stammende Parole im Kampf gegen Hitlerdeutschland, nun, sie war zwar ebenfalls zutiefst moralisch begründet – und damit wirkungsstark –, aber doch auch mit einem Blick auf die Realien: Was kommt auf uns zu? Wie stehen wir das durch? Wer sind unsere Verbündeten? Unterstützt die Bevölkerung mehrheitlich meinen Kurs? Die Ummantelung moralischer Entscheidungen mit pragmatischem Bedenken erscheint als das Gebotene. Moralisch handeln heißt eben nicht unbedingt kurzsichtig und ganz und gar realitätsfern handeln. Anders gesagt: Die Bereitschaft zum Opfer darf den Verstand nicht verdunkeln.

Ein schwieriger Herbst und Winter

Aufgabe der Politik in Krisenfällen, wie ich es sehe, besteht also durchaus auch darin, Stimmung zu machen – aber eben nicht nur. Insbesondere der diplomatische Apparat, für ganz andere Zwecke installiert und berechnet, ist auf allen Ebenen einzusetzen. Das Tischtuch zu zerreißen ist das eine; es wieder zu flicken zu versuchen das andere. Frieden muss das Ziel sein. Es gab ja durchaus immer wieder Lagen, in denen die jeweilige Staatsführung zugleich moralisch einwandfreie Ziele propagierte, während die Diplomaten ebenjener Staaten im Sinn einer Konfliktlösung den Abgründen des Realen nicht aus dem Weg gingen, vielmehr gerade dort fündig zu werden sich bemühten: im Zwielicht des Kompromisses den Weg zum Frieden zu finden.

Da nun das Wort Macht gefallen ist: Es steht außer Zweifel, dass die wirtschaftliche Macht Europas – um ein Vielfaches – größer ist als die Russlands. Daraus aber abzuleiten, dass die europäischen Länder politisch stabiler seien als Russland, ist zu kurz gedacht. Horribile dictu: Solange die in Russland bestehenden Gewaltapparate ausreichend finanziert werden können, wird sich, bei bestehender Kontrolle über die Medien, die innenpolitische Lage dort kaum ändern. Ganz anders in Europa: Ich sage nichts Neues, wenn ich prophezeie, dass wir einem schwierigen Herbst und Winter entgegengehen. Nun, da der Krieg schon so lange dauert, wird es von Tag zu Tag schwieriger, ihn zu beenden. Aber wo ist sein Ziel? Die Opfer dürfen nicht umsonst gewesen sein, die Siegesprämie muss her: Das gilt für den Aggressor Russland genauso wie für die sich wehrende Ukraine. Abwägung des Leids, das bereits verursacht wurde, gegen jenes, das noch zu erwarten ist, wenn weitergekämpft wird. Politisch geht es um Gesichtsverlust, um Überleben oder nicht Überleben der Führung. Ein Präsident Selenskyj ohne Sieg ist mittlerweile wohl kaum denkbar.

Der Schlüssel zum Frieden

Der Schlüssel zum Frieden liegt bei denen, die Waffen liefern, also letztlich bei den USA. Die Europäer, militärisch über Jahrzehnte unterernährt, weil, von zwei Weltkriegen traumatisiert, pazifistisch und sparsam eingestellt, laufen da bloß mit. Stichwort Pazifismus: Im Frieden braucht es keine Pazifisten. Gebraucht werden sie in Kriegszeiten. Der Stellvertreterkrieg, nebenbei sei es angemerkt, ist für die USA doppelt nützlich: Einerseits beleben die Waffenlieferungen die Konjunktur daheim; zugleich schwächt der Einsatz dieser Waffen im Stellvertreterkrieg den Mitbewerber Russland in Sachen Weltmacht. In der Hinsicht erscheinen die Europäer als Getriebene, wenn nicht als nützliche Idioten.

Russland wird jedenfalls unser Nachbar bleiben, ob uns das gefällt oder nicht. Russland als Raubtier zu dämonisieren, dem man nur mit Gewalt begegnen kann – wohin soll das führen? Beschreitet eine Partei den Weg der Unvernunft und Gewalt, muss die andere Seite umso vernünftiger reagieren, soll denn ein Ende der Gewalt herbeigeführt werden. Was nicht heißt, dass man nicht zugleich auch mit allen Mitteln dagegenhalten muss – aber eben: mit allen Mitteln.

In Boris Godunow, der Oper von Mussorgsky, erstaufgeführt 1874 in Sankt Petersburg, kommt eine Szene vor, die als paradigmatisch für das russische Verhältnis zur Macht angesehen werden kann: Der Zarewitsch, ein Kind, spielt auf dem Boden mit einer Landkarte des großen russischen Reiches. Der hinzutretende Vater, Zar Boris, weist seinen Sohn auf die Schwere des Amtes als Herrscher hin. Klar ist, dass Macht und Herrschaft hier mit dem Besitz eines Territoriums und die Herrschaft darüber gleichgesetzt werden. Was Präsident Putin angeht, unterscheidet er sich nur dadurch von Zar Boris und dessen Vorstellung von Herrschaft, dass er den bedrohlichen Albtraum einer demokratisch funktionierenden Ukraine hinzudenkt, aus seiner Sicht hinzudenken muss: Sie könnte doch, sozusagen als Auslage der Demokratie, die eigenen Bürger (Untertanen) auf abwegige Gedanken bringen.

An der Stelle drängt es sich geradezu auf, dem voreilig überwunden geglaubten, dem Putin’schen Konzept von der Macht via Territorialbesitz, das konträre Konzept Freihandel gegenüberzustellen: Wer Freihandel betreibt, hat kein Interesse, politische Grenzen zu verschieben, das nicht – sehr wohl aber ökonomische. Erstrebenswert ist es doch, die eigene Ware auf fremdem Markt durchzusetzen, die fremde Ware vom eigenen, möglichst aber auch vom fremden Markt zu verdrängen. Freihandel als Konzept ist friedlich im Sinne von Waffengebrauch, Waffengewalt etc., aber durchaus auch aggressiv, geht es doch um das Überwinden des wirtschaftlichen Gegners. Klar ist, dass Wettbewerb ohne Waffen jenem mit Waffen jedenfalls vorzuziehen ist. Dass auch bei friedlichem Wettbewerb Lagen entstehen können, die dem anderen, dem Unterlegenen, bedenklich oder gar bedrohlich vorkommen können, lässt sich nicht leugnen.

Eine Art von Katzenjammer

Die Haltung führender europäischer Politiker zum Konflikt via Ukraine mit Russland würde ich abschließend als überzogen, beschränkt und hochstaplerisch bezeichnen. Überzogen in der Hinsicht, dass man Forschungskooperationen oder kulturelle Kontakte abbricht oder einfriert. Beschränkt darin, dass man Russland mit den Sanktionen total isolieren wollte – wo doch zu erwarten war, dass viele der G20-Staaten, insbesondere aber China und Indien, nicht mitziehen würden. Hier verschwimmt die Beschränktheit bereits mit Hochstapelei: Wie mächtig ist denn Europa wirklich? Wie weit reicht denn sein Vermögen tatsächlich? Ist der Traum von der eigenen Größe nicht realitätsfern, ja fast schon nostalgisch? Europa muss sich mächtig ins Zeug legen, will es mit der globalen Entwicklung auch nur mithalten. Der anfänglichen Kraftmeierei ist jedenfalls Ernüchterung, eine Art von Katzenjammer gefolgt: Man hat sich tüchtig verhoben.

Von Puschkin herauf, über Turgenjew oder Tolstoi, über die Achmatowa oder Mandelstam, über Pasternak oder Solschenizyn, um nur einige zu nennen, sehen wir die russischen Dichter verstrickt in die Auseinandersetzung mit ihrer Obrigkeit. Da konnte man einiges lernen. Gerade sie aber sollen wir jetzt links – oder eher rechts? – liegen lassen – was für eine Farce! (Peter Rosei, 10.9.2022)