In prorussischen Telegramkanälen kippt die Stimmung. Wo man normalerweise vom Vorrücken der russischen Armee liest, ist jetzt die Rede von "heldenhaften Verteidigern". Der Grund: Am 6. September begann die Ukraine eine Gegenoffensive in der nordöstlichen Region Charkiw. Mehr als 20 Ortschaften sollen wieder unter ukrainische Kontrolle gebracht worden sein, die Streitkräfte sollen binnen dreier Tage um 50 Kilometer vorgerückt sein. Russland räumte zudem selbst ein, Frauen und Kinder aus der für die Versorgung der eigenen Armee wichtigen Stadt Kupjansk zu evakuieren.

Seit Dienstag rückt die Ukraine von Charkiw aus nach Osten und Südosten vor. Im Süden hingegen stagniert die Gegenoffensive.
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Der Erfolg dieser zweiten Gegenoffensive – bereits seit Ende August bemüht sich die Armee um ein Vorrücken im südlichen Gebiet Cherson – ist für die Ukraine von hoher Bedeutung. Es geht um das Verhindern eines russischen Vormarsches aus dem Norden in Richtung Donezk, wo weiter schwere Kämpfe toben.

Russland im Norden binden

Eine wichtige Rolle spielt hier die kleine Stadt Isjum südöstlich von Charkiw. Diese liegt an einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt und verbindet die von der Ukraine kontrollierte Großstadt Charkiw mit den beiden Hauptstädten der selbsternannten "Volksrepubliken" Donezk und Luhansk.

"Ein Plan Russlands war sicher, aus dem Raum Isjum nach Süden vorzustoßen und dadurch einen großen Kessel zu schaffen", erklärt Markus Reisner im Gespräch mit dem Standard. Er ist Oberst des Generalstabsdienstes im österreichischen Verteidigungsministerium und zurzeit Kommandant der Garde in Wien. "Durch die Offensive der Ukraine, die noch dazu Raum gewonnen hat, ist diese Idee eines russischen Angriffs durcheinandergekommen. Russland kann nun nicht wie vielleicht geplant nach Süden vorstoßen, sondern muss alle Kräfte verfügbar machen, um sich gegen den ukrainischen Angriff zu stellen."

Möglicher Kessel zwischen Balaklija und Kupjansk

Außerdem sei es den ukrainischen Truppen gelungen, die russischen Versorgungsrouten nördlich von Isjum zu durchbrechen. Dort liegt auch die Stadt Balaklija, die bereits von der Ukraine zurückerobert wurde. Balaklija befindet sich am Ufer des Flusses Siwerskij Donez, der ein nützliches natürliches Hindernis darstellt. Zusätzlich rückt die ukrainische Armee auf die Stadt Kupjansk weiter im Osten vor.

"Das ist deshalb interessant, weil Kupjansk an einem weiteren Fluss liegt, dem Oskil. Durch die Verbindungsherstellung zwischen Balaklija und Kupjansk könnte man einen großen Kessel zwischen den beiden Flüssen und der Stadt Isjum, dem Dreh- und Angelpunkt einer möglichen russischen Offensive in Richtung Süden, schaffen", so Reisner. Dass die Operation allem Anschein nach erfolgreich anläuft, läge daran, dass die russischen Stellungen dort nicht von Eliteeinheiten besetzt waren. Stattdessen trafen ukrainische Soldaten auf Teile der russischen Nationalgarde und Einheiten aus Luhansk und Donezk.

Signale Richtung Europa

Vom Erfolg der Gegenoffensive hängt auch die Verteidigung der Schwarzmeerregion ab. Denn der dortige Gegenschlag in der Region um Cherson sollte eigentlich verhindern, dass Russland nach dem Winter Mykolajiw und Odessa einnehmen und die Ukraine so zu einem Binnenstaat machen könnte.

Mittlerweile ist dieser aber ins Stocken geraten. "Wenn die Front im Norden aber so volatil wird, dass sie nicht gesichert ist, dann kann Russland diese Front nicht ausdünnen, um Kräfte in den Süden zu verschieben oder im Donbass anzugreifen." Außerdem müsse die Ukraine "vor dem Winter zeigen, dass es wert ist, sie weiter zu unterstützen", führt Reisner aus. Denn das "Gravitationszentrum" der ukrainischen Verteidigung liege nicht im eigenen Land, sondern in Europa, wo über weitere Hilfen entschieden wird.

"Wenn Russland es schafft, die Unterstützung aus Europa zum Erliegen zu bringen – Stichwort Winter –, dann haben die Ukrainer das Problem, dass sie ihr Gravitationszentrum verlieren und den Krieg nicht weiterführen können." Die Ukraine muss bei Charkiw also nicht nur Gelände gewinnen, sondern auch Erfolgssignale Richtung Brüssel schicken, um überhaupt verteidigungsfähig zu bleiben. (Thomas Fritz Maier, 9.9.2022)